Mittwoch, 16. Januar 2013

Ein Blick in den Strom - Melancholische Reminiszenz


Ein Blick in den Strom - Melancholische Reminiszenz



Weiter unten stieß ich auf eine steinerne Rheinbrücke aus Sandstein. Der berühmte Blick von der Brücke drängte sich auf - ein Topos, ein Bild mit Aussicht, das Dichter und Schriftsteller lieben, besonders die melancholischen unter ihnen. Vom Misthaufen hatte ich schon hinab geblickt, von den Türmen in Paris - und jetzt stierte ich von anderer Warte aus in den völkerverbindenden Rhein: Ein vereinsamtes Boot ruderte beharrlich gegen den träge dahinfließenden Strom -und trieb doch ab. Melancholie pur! Sisyphus im Wasser? Wer ruderte schon gegen den Strom? Gegen den Staat? Gegen die Zeit?

Der vaterländische Rhein floss inzwischen gezähmt durch die Lande, nicht mehr wild und wuchtig, nicht mehr trennend und spaltend wie zu Zeiten von Nikolaus Becker, mich an Danubius erinnernd, den brüderlichen Strom gen Osten, der mich beinahe für immer aufgenommen hatte. Wie in ein romantisches Gemälde versetzt, aus dem die Wehmut einer Dichterseele hervorschimmert, schon leicht elegisch gestimmt, senkte sich mein Blick und gewahrte eine Vogelfeder vor den Füßen, eine Leichtigkeit, dem blau schimmernden Gefieder einer Taube entfallen. Bückend las ich sie auf und ließ sie gleich wieder mir dem ersten Windhauch davonfliegen. Und die Brise nahm sie mit und trug sie fort … Sinnend folgte ich dem schaukelndem Hinabtaumeln durch die Lüfte bis sie die grünbraunen Wogen berührte und mit dem ziehenden Wasser hinweg schwamm. Lange schaute ich ihr noch nach und folgte ihrem leichten Dahinschwinden, ohne die aufziehende Schwermut zu unterdrücken: Sahst du ein Glück vorübergehn, / Das nie sich wieder findet, / Ist’ s gut in einen Strom zu sehn, /Wo alles wogt und schwindet.//Hinträumend wird Vergessenheit /Des Herzens Wunde schließen;/Die Seele sieht mit ihrem Leid /Sich selbst vorüberfließen.

Wer reist, reist nicht allein. Er führt seine Welt mit sich. Seine Sorgen und seine geistigen Welten. Lenaus tiefsinnige Dichterworte mussten sich einstellen – und sie kamen archetypisch aus der Tiefe wie andere Bilder am Wegrand – wie das Kreuz und die Rose, das Feuer und die Asche. Für das wenige, was ich gewonnen, musste ich viel aufgeben. Auch ich hatte einiges verloren und sollte - wie andere Menschen auch – noch mehr verlieren.

Doch Natur und Dichtung boten Trost … Nach einer langen Weile milder Trauer fand ich wieder in die Realität zurück, erhob wieder das Antlitz und richtete den Blick wieder auf weltliche Dinge, auf die nahe Altstadt, die aus dieser Perspektive wirkte wie in den Tagen Zwinglis – nunc stans auch hier?

Imposant und unverwüstlich lag sie über mir wie ein märchenhaftes Relikt aus einer noch heilen Welt. Die Welt um mich stand still; nur im Rhein war alles im Fluss. Ohne länger zu säumen, stieg ich wieder hinauf und schlenderte weiter. Doch die Kirchen, an denen ich vorbei kam, blieben mir verschlossen wie dem Sünder das Himmelreich.

Weshalb die Protestanten ihre Gotteshäuser vor den Einkehrsuchenden verschließen, blieb mir ein Rätsel. Wenn Kirchen kein Refugium bieten, keine kühle Linderung an heißen Tagen und kein Asyl bei Verfolgung, wozu brauchen wir dann Kirchen?

Schließlich stieß ich durch Zufall unweit des Rheinufers auf einen ehrwürdigen Kreuzgang, in welchem einige vornehme Bürger der Stadt ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Es war ein Monument - wie vieles am Rhein - aus rotem Sandstein mit hundertjährigen Grabstätten aus der Renaissancezeit, aus den Tagen der Reformation. Epitaphe, teils mit Witz und Ironie in Verse verpackt, erinnerten den Wanderer daran, dass aller Glanz und Reichtum dieser Welt vergänglich ist, auch in der Schweiz - Vanitas! Vanitatum vanitas!

Während ich im staubigen Kreuzgang verweilte, an einem Ort, vom dem ich nicht recht wusste, ob er schön war oder schrecklich, als ich innehielt und ruhte, in leiser Ahnung, ein blauer Aspergillus könne aus den finsteren Katakomben herauf schleichen und meinen Atem für immer lähmen, tödlich giftig wie der Hauch des Basilisken, merkte ich, wie ein anderer Drang aus dem Unterleib aufstieg. Ein menschliches Rühren kündigte sich an; eines, das nichts mit dem hehren Gefühl des Klassikers aus Marbach gemein hatte, sondern recht profaner Natur war. Sogleich dachte ich wieder erdbezogener und fragte mich ernsthaft, wo die nächste Urinieranstalt aufzufinden wäre und ob ich mir den Gang zum Pissoir auf diesem teuren Pflaster überhaupt noch leisten konnte. Das kleine Kreuz hatte eine Unsumme verschlungen; und jetzt sollte ich wieder Geld ausgeben für etwas, was kein sparsamer Schwabe gerne einsieht: Für Wassertrinken zahlen? Und für Wasserlassen auch noch? Also war doch nichts umsonst im Kapitalismus? Und nicht alles für Nichts, nur für die Katz … Oder für die Basilisken?

Als das Drängen schließlich stürmischer wurde und bedrohlicher, entschloss ich mich doch noch, den Regungen der Natur nachzugeben und mir wenigstens den kleinen Luxus zu leisten, bevor ich das Gleiche nach diszipliniertem Ausharren und Verkneifen im Zug umsonst haben konnte. Auch wenn es sich für einen alten Stoiker nicht ziemte, gleich schwach zu werden und loszurennen … non licet ….meinte Epiktet … den Schwächen des menschlichen Körpers nachzugeben und von Zeit zu Zeit seine Notdurft zu stillen. Epiktet hatte als vollendeter Denker der Stoa die Kontrolle seiner Blase ebenso gut im Griff wie mein anderes Vorbild, der göttliche Epikur und Gartenphilosoph, der selbst große Schmerzen zu unterdrücken wusste, ohne krampfhafte Regungen zu zeigen. Nur ich, ein aufgeklärter Mensch der Neuzeit und bürgerlicher Dekadent, sah die Dinge lockerer, suchte nach einem Fränkli, den ich in das Wohlbefinden zu investieren bereit war und bahnte mir den Weg zu jenem Örtli, wo der Mensch seinen wahren Himmel findet - und göttliche Erleichterung. Doch erzählen wollte ich diese Begebenheit niemandem. So etwas war unfein, also tabu! Nicht nur in der Schweiz. Non licet, eben! Oder?


Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe

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