Dienstag, 15. Januar 2013

Über den Zinnen von New York - Tragisches Finale mit Happy End


Über den Zinnen von New York - Tragisches Finale mit Happy End



Die Feuer der Erhebungen und Revolten von Temeschburg und Bukarest waren verraucht. Die Glut war verglüht. Und jetzt lag der letzte Diktator Europas im Staub, der Schmach und der Vergänglichkeit preisgegeben. Aus einer grotesken Figur war eine tragisch-komische geworden. Und kaum jemand weinte ihm eine Träne nach.

Das Unfassbare war geschehen. Die kommunistische Ära in Rumänien schien zu Ende zu sein und mit ihr der Kalte Krieg und die Ost-West-Konfrontation in Europa. Darüber hinaus hatte der Kommunismus, der einst als Emanzipation der unterdrückten Völker gestartet war, weltweit als egalitäres Gesellschaftsmodell abgedankt. Der Hort des Kommunismus, die glorreiche Sowjetunion, zerfiel bald in viele bisher klein gehaltene Einzelstaaten.

Brach nun eine Zeit der Harmonie und des allgemeinen Wohlstands an, eine Zeit der Freiheit in all ihren Formen und für alle auf dem Alten Kontinent?

Immer noch bebte ich leicht vor innerer Betroffenheit. Denn solche Nachrichten waren nur schwer zu bewältigen. Erst nach Stunden des Flugs kehrte etwas Ruhe ein. In das lichte Blau des Himmels starrend, ließ ich mich von symphonischer Musik aus dem Walkman berieseln.

Diesmal waren es keine aufbrausenden Töne, keine Beethovensche Symphonie, die mich erregte; ich hörte liebliche Klänge, himmlische Musik, wie sie nur einer komponieren konnte - Mozart. Ich hörte das Adagio des Klarinettenkonzerts - jenseitige Musik, Musik des endgültigen Abschieds und der Wiederkunft. Fast in Trance vernahm ich Musik der Sphären voll kosmischer Harmonie. Jede elegische Stimmung war plötzlich verflogen, jeder Alptraum gebannt. Die Seele ruhte aus und sehnte sich nach mystischer Versenkung. Ein Prinzip hatte triumphiert - die Freiheit!

Also gab mich ganz der Musik hin und mit ihr der unaussprechlichen, unendlichen Freiheit bis das Konzert im großen Finale kulminierte - und dann: ein Paukenschlag!

Verstört schreckte ich auf. Mozarts Zaubermusik war dahin. Es war der Gong, der mich so unsanft aufgeweckt hatte, gefolgt von der bestimmten Aufforderung, die Gurte anzulegen. Es war kurz vor der Landung. Mein Blick schweifte durch das Bullauge.

Wir kreisten bereits über den Zinnen von New York. Das Flugzeug flog eine Schleife, um das jenseits des Hudsons gelegene New Jersey anzufliegen. Die Wolkenkratzer-Skyline kam jetzt in Sicht mit dem markanten Empire State Building und dem Blitzableiter, der in den Himmel ragte. Während das Flugzeug an Höhe verlor und sich schnell der Metropole näherte, deutete sich die Südspitze dieser Megalopolis an: Manhattan, die Skycraper-Landschaft mit einem Postkartengesicht, dem noch keine Schneidezähne fehlten, ein Bild mit den vor wirtschaftlicher Dynamik strotzenden, unverwüstlich erscheinenden, und alles überragenden Twin Towers in Silber, zu deren Höhen ich schon von unten aus geblickt hatte. Und dann, der Südspitze vorgelagert, weit draußen vor dem Hafen im Meer ein Feuer-Symbol, das für die gesamte Nation so wichtig war. Als Kind hatte ich jenes schlichte Wahrzeichen Amerikas auf den kleinen Briefmarken bestaunt, die regelmäßig zu Weihnachten und Ostern zu uns fanden, oft achtlos von Briefboten in den Schmutz geworfen. Jetzt gewahrte ich das Monument in volle Größe. Unter mir, noch in der Ferne, doch schon gut erkennbar, ragte auf einem hohen Podest eine Figur aus der Flut, eine aufrechte Gestalt, dem Koloss von Rhodos nachempfunden:eine engelsgleiche Frau mit brennender Fackel in ausgestreckter Hand! Es war ein Symbol, das das revolutionäre Frankreich den bedrängten amerikanischen Freiheitskämpfern geschenkt hatte als Geste der Solidarität und Zuversicht: Die Werte Liberté, Egalité, Fraternité - und somit die Ideale der Französischen Revolution - sollten in der freien, neuen Welt ihre Verwirklichung finden als ethische Maximen und regulative Ideen der Humanität.

Jetzt sah auch ich die Statue, auf die Amerikas Pioniere hoffnungsvoll geblickt hatten, bevor sie als Einwanderer an Land gingen - und ich erkannte jenes Denkmahl, das wie kein anderes eine Idee verkörpert und diese in die ganze Welt hinausstrahlt - die Freiheit!





Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur


Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe


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