Mittwoch, 16. Januar 2013

Unter Basilisken – Kreuz und Kreuz-Gang


Unter Basilisken – Kreuz und Kreuz-Gang



Trotzdem nutzte ich das Umsteigen in Basel, um in einer Pause wenigstens etwas von der bedeutenden Stadt zu sehen. Mein erster Weg führte natürlich zur weltbekannten Kunsthalle, die ich immer schon hatte sehen wollen. Doch diesmal beschränkte ich mich noch strenger als in Paris und London nur auf die architektonische Kulisse, auf den Bau und das Foyer, ohne für die wertvollen Exponate in den Ausstellungsräumen Zeit zu finden. Erst kam die Pflicht und dann irgendwann auch Kür und Muße. Danach steuerte ich Basels Zentrum an, durchstreifte Teile der Altstadt, die ursprünglich und intakt wirkte, weil hier keine Brandbomben niedergegangenen waren. Am Markt aß ich eine Bratwurst und betrachtete ganz nebenbei die in prallstes Rot getauchte Fassade des Rathauses der freiheitlichen Bürgerstadt, deren Wappenträger zu meiner großen Verwunderung ein Basilisk ist. Auf Basilisken reagierte ich wie auf Rot - aggressiv wie der Bulle in der Arena; denn mit beiden hatte so meine Erfahrungen - mit blutroten Flaggen und mit giftigen Basilisken - ferner mit den roten Basilisken aus der Schlangengrube, die einer besonderen Spezies angehören.

Das historische Rathaus imponierte und erinnerte daran, dass auch Freiheiten aus Traditionen erwachsen. Lieber tot als Sklaverei, hatten die Germanen einst ausgerufen, bevor sie über Varus herfielen und dann über Usurpator Arminius selbst. Und die Alemannen um mich herum, das waren wie die Cherusker Germanen!

Fürwahr, Zukunft braucht Herkunft – auch im Stadtgeschichtlichen! Nicht nur Menschen, auch Städte haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Dieses Rathaus sprach dafür, trotz des Basilisken im Wappen!

Während ich halb neugierig, halb gelangweilt durch die Straßen des Wohlstands schlenderte wie andere brave Bürger auch, die ihren Hund ausführen, nichts Besseres im Sinn als ein winkendes Schnäppchen am Straßenrand, und mit einer Lust, dem Herrgott die Zeit zu stehlen, verrieten mir die teueren Markenuhren in den Vitrinen der Juweliere, wie unaufhörlich die Zeit verrann. Embleme der Vergänglichkeit auch sie! Trotzdem vergeudete ich etwas von der Unwiederbringlichen, indem ich mich vom Schaufenstergefunkel in allen Farben des Regenbogens ablenken ließ. Was ich im Zug schon bestaunt hatte, war wieder da in großer Auswahl, nur für größere Geldbeutel als den meinen.

Obwohl alles, was selten und teuer war, ausgebreitet vor mir lag, drängte es mich nicht wirklich, etwas von alledem besitzen zu wollen. Hatte sich nicht schon Sokrates über Dinge erhoben, die er nicht brauchte? Und noch viel radikaler als das fragende Schlitzohr dann der verwegene Diogenes von Sinope, der Selbstgenügsame im Fass? Was nützen Dinge, die der Mensch nicht wirklich zur Lebensbestreitung nötig hat, fragte später auch Seneca? Und zweitausend Jahre danach fragte ich es mich auch.

Die Kontraste waren allzu krass. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch selbst bitter erfahren müssen, wie Menschen mit einer schmalen Schnitte Graubrot ihr Überleben fristeten. Und jetzt stand ich vor der Überfülle, die nicht nur mir dekadent vorkam. Hatten nicht schon die Römer für all das so begehrenswerte Überflüssige hier vor meinen Augen einen klaren Begriff? Luxus! Was konnte man mit diesem in unzähligen Facetten funkelnden Hunderttausend-Dollar-Klunker im Ursprungsland Afrika alles anfangen? Wie viele Wellenblechhütten konnte man damit errichten, wie viele Reistöpfe füllen?

Die Kontraste waren überscharf, gerade in der Schweiz, und nur schwer zu ignorieren wie die Gedanken, die in Gewissenskonflikte mündeten. Wie konnte ich die einst idealistisch gestartete Welt des Kommunismus im Osten konsequent bekämpfen, wenn die freiheitliche Gesellschaft des Westens noch so weit von den Idealen der Humanität entfernt war? Durfte ein Dissident, ein Bürgerrechtler, Partei ergreifen für eine Seite, deren Unzulänglichkeiten nicht zu ignorieren waren? Oder musste er auch hier den Zeigefinger heben, den besserwissenden des rügenden Moralisten, und Kritik üben? Wenn ich: J’ accuse ausrief, schielte ich immer nach Osten! War das nicht einseitig?

In diesem Dilemma, das die Unruhe des In-der-Welt-Seins ausmacht, erspähte ich dann etwas, was selbst ich, der arme Studiosus aus Deutschland, sich in dieser teuren Stadt leisten konnte. Für wenig Geld war ein zierliches Kreuzchen zu haben, das an einem noch filigraneren Goldkettchen hing. Es zog mich magisch an, denn es sah jenem ähnlich, welches ich einst in den Wirren der Ausreise verloren hatte. „Dieses Kreuz musst du haben!“ sagte mir die innere Stimme. Nicht des blassen Goldes wegen, sondern aus sentimentalen Gründen, als Sinnbild, als ein neuer Glücksbringer und als verdichteter Träger von Erinnerungen, von Freuden wie von Leiden. Im Kreuz hatte sich einiges verdichtet - wie in der Rose.

Ein Freigeist, der zum Kreuz greift? Entsprach mir das Symbol wirklich? Es war ein besonderes Sinnbild, ein individuelles Kreuz. Mein Kreuz stand für Altruismus. Und es stand für meinen Weg wie ein Wegkreuz, das dem Wanderer die Richtung weist. Ein Mädchen aus Bremen hatte mir einst ein Kreuzchen in den Brief gepackt, ein schlichtes Kreuz aus Silber. Und jenes kleine Kreuz hatte mich durch die ganze Zeit der Rebellion begleitet, drei Jahre lang, bis es mir an der Gefängnispforte abgenommen worden war. Als es dann bei der Entlassung wieder auftauchte, hatte es Patina angesetzt; es war schwarz, korrodiert.

In diesem Moment der Rückbesinnung wurde mir klar, dass ich, der einstige Ketzer und Spötter, das Kreuz wieder tragen konnte wie früher, nur für mich und auch offen, ohne innere Diskrepanz zur Christenheit - wie einen Talisman, als Rückbesinnung auf Ideen, Ideale und auf Werte, die nicht in Panzerschränken verstaut werden. Das Kreuz war gerade noch erschwinglich. Also erwarb ich es, entzog mich dem Tumult und legte es an. Sogleich fühlte ich mich geborgener. Mit ihm war ich nicht mehr ganz allein - und hatte wieder Beistand, himmlischen Beistand, den Schutz der Engel und der Heiligen als immer noch Verfolgter unter der gerechten Ägide Gottes. Im Kreuz ist Heil, hatte ich irgendwo am Wegrand gelesen, an einem Flurkreuz im Feld; und - wirf deine Sorgen auf den Herrn! Das war die psychologische Existenzbewältigung der Theologie, zu der der Mensch in seiner gefühlten Endlichkeit gerne greift, wie der Humpelnde nach einer Krücke. Und auch ich war nur ein Mensch.

Basel gehört zu jenen Städten, in denen ich mich damals noch wohl fühlte. Eine freiheitliche Stadt am Strom, in welcher der Geist der Geschichte pulsierte und überall präsent war. Die phantasiereich gestalteten Basilisken vor Ort erschreckten mich nicht. An der Wettsteinbrücke sah ich eine der Figuren und später auch noch andere Gift hauchende Ungeheuer als Brunnendekoration und Wasserspeier. Der König der Schlangen war allgegenwärtig!?

Ob gar die Namensgebung der Stadt mit dem Basiliskenmythos zusammen hing? Thronte hier wirklich einmal ein Basilisk über der Stadt, ein Lindwurm einem Schwertstoß entgegenharrend wie jene einsame Pinie über dem Abgrund dem ersten Blitz? War nicht auch Friedrich Nietzsche hier gewandelt als vereinsamter Professor der alten Philologien? Und hatte nicht auch er hier über das Ausbrüten des verhängnisvollen Eies nachgedacht - und einen Vers darauf gemacht? Was doch alles mit Basilisken zusammenhing! Unangenehmes kroch hoch? Unerfreuliches aus der jüngsten Vergangenheit, das nur wenig mit Nietzsche-Studien zu tun hatte. Im fernen Temeschburg hatte ich andere Basilisken erleben müssen und anderes Schlangengezücht.

Der Weg hinab zum Rhein machte mich noch nachdenklicher. Er führte hinab durch die engen Gassen des Spätmittelalters, in denen mir manches auffiel, was ich in Deutschland nirgendwo zu Gesicht bekommen hatte: Meteoriten Mondgestein … und weitere seltene und seltsame Dinge, die ich in der prüden Republik nie vermutet hätte. Doch die Schweiz ist ein liberales Pflaster mit freien Gesetzen und mündigen Bürgern.

In dem Land, wo der wehrfähige Mann sein Sturmgewehr im Schlafzimmer verwahrt wie seine Braut, jederzeit bereit, die Freiheitdes Vaterlandes zu schützen, waren auch Waffen frei käuflich wie die Liebe, fern von jeder Prüderie; von der Pistole bis zur Kalaschnikow war alles zu haben. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein aufgeregter Schweizer, vielleicht in Rückbesinnung auf den Heros Tell, zur Flinte griff und in Richtung Parlament marschierte, um dort nicht nur auf Äpfel und Tontauben zu schießen. Anarchie auch hier? Jedes System birgt Risiken in sich - auch das Prinzip von Freiheit und Selbstverantwortung.

Das farbenfrohe Treiben in den Gassen empfand ich genauso angenehm wie den eigenen Singsang des Schweizerdeutschen durchsetzt mit alemannischen Brocken und französisch-italienischen Wortfetzen. Der besondere Duft des Marktes verwies auf südlichere Gefilde, wie seine Fliegen anderes Geschmeiß andeuteten. Nicht ist es dein Los, ein Fliegenwedel zu sein, mahnte Nietzsche vielleicht inspiriert von diesem Markt.


Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur




Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen