5. Satz: Rhapsodie … in Moll
Adagio
Freiburg
Ich war über
Rottweil angereist und hatte noch etwas Zeit und Muße, ziellos durch die
Altstadt zu schlendern und den Geist der Geschichte auf mich wirken zu lassen.
Freiburg war nicht ganz so alt wie Rottweil, das als Arae Flaviae bereits im
Jahr 73 nach Christi Geburt von den Römern gegründet worden war, dafür aber
umso vielfältiger und interessanter. Die Geschichte war allgegenwärtig; jeder
Zierbrunnen, jedes Bächle, jedes Gebäude des vom Buntsandstein dominierten
Stadtkerns verwies auf ein anderes Jahrhundert. Der Lauf der Zeiten stand
hinter dem pulsierenden Leben der Straße. Das alt ehrwürdige
Universitätsgebäude, an dessen Front Jesus in lichtfunkelnden Goldlettern über
die befreiende Wahrheit redete, erschien im gedämpften Tageslicht eines
aufziehenden Gewitters tiefrot wie der Wein der Landschaft. Abgeschiedenheit
suchend, ging ich zum Fluss hinunter, an das Ufer der Dreisam.
Es war eine
kurze Flucht vor dem tobenden Lärm der Stadt im Hintergrund; ein wenig
erholsames Eintauchen in die relative Einsamkeit des Ufers. Das monotone
Rauschen des Wassers beruhigte trotzdem. Mein Blick streifte die Licht
reflektierenden Wellen, die glitzerten wie die Aufschrift auf der Fassade der
nahen Alma Mater, ohne ein Ziel zu finden; und das Ohr war erfüllt vom munter dahin
plätschernden Nass des reißend schäumenden Flusses, der eigentlich nur ein
kräftiger Wildbach war; ein Quell, der aus den Berghängen des Schwarzwaldes
herunter schoss, wuchtig und kräftig wie neues Leben, das sich seine Bahn
erobert. Panta rhei - ein altes Thema.
War ich an
einem Denkort angekommen, wo schon andere Denker über die Tiefen des Seins und
über den Urgrund des Wesens nachgedacht hatten? Über Phänomene, die unsere
Existenz bestimmen und über die Grundfragen der Metaphysik, beginnend mit Parmenides
und Heraklit? War überhaupt alles im Fluss? Gab es überhaupt ein Sein? Oder war
alles nur ein Werden? Ein permanentes Neuwerden? Bestimmte uns die Dynamik der
Natur oder die Statik der Festlegung?
Etwas vom
Hauch der Vergänglichkeit, die einen befällt, wenn man melancholisch sinnend
wie zarte Romantiker früherer Jahrhunderte in die Fluten blickt, wo alles wogt
und schwindet, fühlte ich auch hier am schnellen Bach, der unweit im Rhein
aufgehen sollte. Wie viel Wasser war in den letzten Jahren die Ströme hinab
geflossen, während ich strampelte, die Donau hinab, die Rhone und den Rhein?
Das flüchtige Wellenspiel beobachtend kam mir jenes philosophische Urgestein in
den Sinn, den man im Alten Griechenland den Dunklen
nannte. Meine Gedanken schwirrten ab in das Reich des Vergehens, zu
Gryphius und Lenau in die Welt des Pessimismus und Nihilismus. Vanitas!
Vanitatum vanitas! Und dann wieder über Goethes versöhnenden Geist zurück zu
den sinnreichen Worten im Sandstein, deren Botschaft über unsere Zeitlichkeit
hinauszureichen schien: Die Wahrheit wird
euch frei machen. Literatur, Philosophie und Leben bildeten eine Einheit,
ein Ganzes, in dem alles miteinander verwoben war und sinnstrukturiert
zusammenhing. Auch nach Plötzensee und Auschwitz?
Die Zeit
verrann im Nachdenken über das Sein in
der Zeit. Nun musste ich weiter in Richtung Bahnhof. Am Universitätsbau
angekommen, schritt ich, vorbei an den ehernen Giganten der Geistesgeschichte,
die Treppe hoch bis in die Aula, wo Heidegger seinerzeit seine kontrovers
diskutierte Rektoratsrede gehalten hatte. Der weite Raum war leer. Der große
Geist war ihm entwichen. Wieder stand ich allein im Raum; allein mit meinen
Gedanken, die erneut abschweiften - zurück zum Mythos, dann zum Logos, zu den
Anfängen der Naturphilosophie, den vier Elementen und den vier Temperamenten;
in die Exegese und Interpretation, zurück zu Hermes und Hermes Trismegistos -
und schließlich wieder hinein in die hermetisch verklausulierte Welt jenes
deutschen Professors von der Alb, der alles erhellen und zusammenführen sollte
in der großen enigmatischen Synthese des Seins. Sein Geist schien doch noch
irgendwie präsent zu sein und in einer verborgenen Aura weiter zu wirken. Etwas
fühlte ich davon und verband damit einen Impuls, eine Aufforderung: wachsam zu
sein und am Denken festzuhalten, fern der Metaphysik, doch dicht an der
Existenz. Damit war ich wieder in meinem Element wie der Fisch im Wasser, in
der Idemität und kosmischen Harmonie, die wiederum Voraussetzung ist für klares
Denken und Handeln.
Nach den
existentiellen Erfahrungen der letzten Jahre, die mich manchmal in den
Grenzbereich von Leben und Tod gebracht hatten, glaubte ich einer zu sein, der
wusste, was tatsächliches Existieren
ist; was Geworfenheit, Sorge,
Exponiertheit und was reell erlebte Grenzsituationen
bedeuteten. Jaspers, Sartre und Camus sollten mir bald mit ihrem Denken
dazu verhelfen, das Erlebte weiter gedanklich zu ordnen und die philosophische
Tragweite des tatsächlich existentiell Erlebten in der Existenzerhellung besser erfassen und begreifen zu können.
Inzwischen war ich bereit ihnen genau zuzuhören, um zu erfahren, wie sie - aus
ihrem Elfenbeinturm heraus - die Freiheit
sahen und das Leben.
Doch das war
etwas, an dem die Außenwelt nicht teilnahm, ein elitäres Privatvergnügen,
hinter dem sich nur das geistige Überleben eines Individuums in einer zutiefst
ungeistigen Welt verbarg. Die Tatsachenwelt war eine andere. Hier und jetzt kam
es nicht mehr darauf an, über das Leben philosophierend nachzudenken und
Schlüsse zu ziehen; jetzt galt es, die tatsächlichen Herausforderungen der
Existenz konkret zu bewältigen mit allen neuen Chancen und Risiken, die auf
mich zukamen. Und in diesem Prozess verfolgte ich ein bescheideneres Ziel. Ich
musste zum Bahnhof und jenen Zug finden, der mich über Basel nach Genf bringen
sollte. Also sah ich nach der Zeit, verließ die kontemplative Welt höherer
Sphären und eilte zu den Zügen.
Offener Ost-West-Dialog im Zug nach Genf – Schein oder Sein
Freiburg
Hauptbahnhof. Der Zug nach Süden rollte ein. Gelassen stieg ich zu, suchte und
fand auch gleich das, wonach ich in der Regel immer Ausschau hielt, wenn ich
mit der Bahn unterwegs war: ein leeres Abteil, eine Stätte, wo man ungestört
verweilen, Einkehr halten und die Innen- wie Außenwelt am besten erleben
konnte. War das ein Glückstag? Vielleicht!
Mitreisende
kann man sich ebensowenig aussuchen wie nahe Verwandte. Sie alle können aus
einem geselligen Menschen einen Misanthropen machen. Schon deshalb suchte ich
die Einsamkeit im Zug, die freiwillige Abgeschiedenheit; aber auch um über
künftige Dinge nachzudenken, um zu lesen und dann, wenn ich müde werden sollte,
ruhig die Landschaft zu beobachten, die auf dieser Fahrt recht
abwechslungsreich zu werden versprach.
Obwohl ich
schon seit einem guten Jahr im Westen lebte, bereits viel herumgereist war und
auch schon manches gesehen hatte, interessierte mich immer noch alles, was an
neuen Eindrücken auf mich zukam. Wer lange eingesperrt war wie ich, zunächst in
einem großen Gefängnis und dann in einer kleinen Zelle, sieht vieles mit anderen Augen und genießt viele
Dinge und Erscheinungen mit anderen
Sinnen. Doch noch während ich im vorderen Zugbereich am Fenster sitzend und
mit dem Blick in die Fahrtrichtung auf den Abpfiff wartete, war es mit der
Selbstisolation vorbei.
Eine reifere
Dame, die gerade an diesem Abteil Gefallen zu finden schien, schob die Tür
zurück: „Ist hier noch ein Sitzplatz frei - und darf ich mich zu Ihnen setzen?“
fragte sie höflich, nachdem sie mich einige Sekunden kritisch gemustert hatte.
Es war eine rhetorische Frage, eine Floskel; denn noch bevor ich etwas erwidern
konnte, schickte sie sich bereits an, mir gegenüber Platz zu nehmen. Was konnte
ich anderes tun, als ihr behilflich zu sein, die schwere Reisetasche zu
verstauen.
Das Nachdenken
war vorerst dahin und jede Konzentration. Allein die bloße Präsenz reichte aus,
um meine Intimsphäre zu durchbrechen. Äußerlichkeiten drängten sich auf, ein
penetrantes Maiglöckchenparfüm und das extravagant pastellfarbene Kostüm mit
lindgrünem Hut. Madame Pompadour auf Reisen?
Das
Aufdringlichste an der Diva, die der Siebzig wohl näher stand als der Sechzig,
dies aber gut zu kaschieren wusste, war ihr überreicher Schmuck. Überhangen wie
ein Weihnachtsbaum trug sie das Geschmeide über den ganzen Körper verteilt. Ein
Kranz weißer Perlen zierte den welken
Hals und schweres Gold liftete die Ohren. Am Unterarm erkannte ich einige
filigran gearbeitete Reifen aus Platin wie ich sie früher bei Zigeunern gesehen
hatte, nur edler. Selbst an den Fingern führte sie noch ein kleines Vermögen
mit sich, wuchtige gelbe Ringe, die zum Teil mit grünlichen Smaragden und
blutrot funkelnden Rubinen besetzt waren. Bunte Steine erinnerten an Literatur
und an die farbige Welt vor unseren Augen.
Geld schien
in ihrem Leben keine besondere Rolle zu spielen - oder eine große Rolle?
Überzeugt, der Mensch könne ohne jeden Luxus auskommen, wusste ich nicht viel
über Edelsteine, noch über Geld.
War Zier
wirklich notwendig? Waren diese Preziosen notwendige Accessoires der Frau,
Kleinodien, die zu ihr gehörten und die jede Frau gerne haben wollte, weil sie
das Wesen des Weiblichen ausmachten? Standen sie für innere Schönheit oder
ersetzten die diese nur? Oder war der teure Plunder nur ein Signum des
Wohlstands, ein beiläufiger Hinweis darauf, dass es einem gut ging? Doch das
Betrachten der Steine, das fiel mir kaum auf, lenkte mich vom Studium des
Menschen ab.
Viel
Täuschung lag im Gefunkel. Wer genauer hinsah, erkannte hinter dem Rot der
Rubine die geröteten Augen der Kinderarbeiter, die diese Steine unter
Lebensgefahr aus den Tiefen der Anden hervorgeholt hatten. Was machte diese
Steine also begehrenswert, die Seltenheit oder das blutige Opfer dahinter?
Erhöhten sie
den sittlichen Wert des Menschen, der sie trug? Oder waren sie doch nur
Elemente des Scheins, die vom wahren Sein ablenkten und irgendwo eine innere
Leere verdeckten?
Vielleicht
kompensierten sie auch nur verlorene Werte von einst, die Jugend vielleicht,
oder die Schönheit? Reagierten Frauen anders auf die Verlockungen der
Scheinwelt als wir Asketen? War Eva da anfälliger Adam? Noch war es wohl nicht
gelungen, die Frau vom Schönen Schein abzubringen, vom Scheinen und von der
Welt des Scheins, vom Drang nach Gold, nach fremden Düften und nach ganzen
Eimern Schminke. Wo kein Selbst war, und das galt für beide Geschlechter, dort
musste oft nachgeholfen werden - mit eitlen Tand. Und je mehr die natürliche
Schönheit verblasste, desto deutlicher wurde kompensiert, um schön zu wirken,
um die Begehrlichkeit zu steigern, auch wenn die Natur keine Eroberung mehr
vorgesehen hatte.
Auge in Auge
sitzend, musterten wir uns immer noch gegenseitig mit dem Misstrauen weit
auseinander liegender Generationen, ganz so, als wollten wir uns einen ersten
Eindruck verschaffen, wer es mit wem zu tun hat. Worüber hätten wir uns
unterhalten können? Über geschlechtsspezifische Unterschiede - auch in der
Wahrnehmung der Welt? Über das Elend, aus dem ich kam und über das vielfache
Leiden, das ich mit angeschaut hatte?
Bestimmt
nicht! Wie der Mann, der anders denkt und anders programmiert ist, die Frau
nicht ganz versteht, so hätte die Dame meine Sicht der Dinge wohl kaum
verstanden. Ob sich meine Verachtung der Materie in einem entsprechenden Blick
niederschlug? Eher nicht! Die Aura blieb von einer gegenseitigen
Freundlichkeit, ja Sympathie bestimmt. Selbst das kräftige Maiglöckchenparfüm,
dessen Duft inzwischen den gesamten Raum einnahm, schien irgendwann erträglich;
verdrängte es doch den lästigen Tabakqualm, der sich in allen Sitzen und Ritzen
des Abteils eingenistet hatte.
Ein gütiges
Lächeln huschte über ihr Gesicht. Worüber sie wohl nachdachte? In einen
besseren Anzug geklemmt, am Hals eine eng geschnürte Krawatte, die meine
Atemfreiheit etwas einschränkte, saß ich da - ein Handlungsreisender in Sachen Freiheit. Mein Frisör hatte die wilde
Studentenmähne gerade noch etwas zurück geschnitten, den struppigen Vollbart
gekürzt und den Wildwuchs der Augenbrauen eingedämmt. Damit war ich, wie es der
Figaro später auszudrücken pflegte, entwaigelt und somit salonfähig für den
Eintritt in die bessere Gesellschaft des mondänen Genf. Immer wenn eine höhere
Mission anstand und ich auf Reisen ging, an die Seine, an die Themse, an die
Isar, an die Spree oder wie jetzt, an den Genfer See, war oft eine äußerliche
Verwandlung angesagt, ein Herauspolieren und Fitmachen für die bessere Gesellschaft. Homo sum? Weit
gefehlt! In der feineren Welt zählte der erste Eindruck - das Akzidens, nicht die Substanz. Proteus gleich, musste der rebellische Student, innerlich
schizophren aufgespalten zwischen Jekyll und Hyde, auch nach außen zum
Gentleman metamorphosieren, mutieren, wollte er seinen Auftrag nicht zu
gefährden. Keinesfalls durfte ich unglaubwürdig erscheinen, bevor das
Testimonium abgelegt war. Das waren
die Spielregeln der freien – an sich
schon geschlossenen - Gesellschaft, an die sich auch ein Aufmüpfiger zu
halten hatte - das ist die Macht der Konvention, auch heute: Die Gewichtung der Erscheinung geht der
Wucht des wahren Wortes voraus wie das Vorurteil dem Urteil vorauseilt - und
der Schein dem Sein!
Will die Welt betrogen sein?
Vieles
deutet darauf hin. Minuten vergingen. Keiner sagte ein Wort. Die Landschaft
bewegte sich wie auf einer Kinoleinwand. Und das Kleinhirn ließ sich wieder
täuschen. Täuschung überall, auch dort, wo Erkennen vermutet wird? Freiburg lag
hinter uns. Der Zug wurde schneller.
„Sie sind
sicher geschäftlich unterwegs?“ tastete sich die Dame sondierend an mich heran,
nachdem der Zug bereits volle Fahrt aufgenommen hatte.
„Teils,
teils“, antwortete ich nebulös ausweichend, da das mit den Geschäften nicht
wirklich zutraf.
Geschäfte!
Welch eine Umschreibung für die anstehenden Aufgaben? Der Sozialismus hatte
seinen undifferenzierten Sprachgebrauch, seine Floskeln; und die
kapitalistische Welt die ihre. Und auf
beiden Seiten verwies die uneigentliche Sprache auf die Uneigentlichkeit der
Existenz.
Jetzt aber
galt es den Kopfgeburten Einhalt zu gebieten und das unselige Psychologisieren
einzustellen, bevor aus der Zugfahrt ein moderner, aphorismenstrotzender Roman
wurde. Nur: Philosophen denken anders und schreiben anders, auch wenn sie als
ehemalige Dissidenten unterwegs sind.
„Sie wollen
mir nichts verraten, das merke ich schon …“ lächelte sie süffisant und wollte
sich gerade abwenden, als meine nachhinkenden Worte sie in die kaum erst
aufkommende Kommunikation zurückholten: „Nach Genf will ich … in einer
rechtlichen Angelegenheit …“ ergänzte ich dann nach einigen Sekunden des
Abwartens lässig und mit halber Stimme, einem Angler gleich, der einen Köder
auswirft um herauszufinden, ob die Fische heute beißen. Der Hinweis auf ein
Rechtsproblem war ein besonderes Lockmittel, das mir zu erkennen geben sollte,
ob das Gesprächsinteresse dieser Frau über das übliche Geplänkel hinausging,
das man so auf Fahrten erlebt. Die meisten Menschen werden von rechtlichen
Auseinandersetzungen abgestoßen. Selbst ich kannte die Aversion bei
juristischen Fragen, obwohl ich öffentliches Recht studierte. Und dies mit
gutem Grund - denn von Menschen gesetztes Recht ist nicht weniger labil und
zuverlässig als die Hohe See bei Sturm. Schon rechnete ich mit ihrem schnellen
Rückzug aus dem spärlichen Dialog und wollte mich der Betrachtung der
dahinfliegenden Landschaft zuwenden, als die Dame interessiert nachfragte:
„Dann steht wohl ein Verfahren an? Geht es gar um ein Verbrechen?“
„Nein,
nein“, wimmelte ich ab: „Es ist nicht Zivilrechtliches. Kein Strafprozess … Das
Ganze hat mehr mit Öffentlichem Recht zu tun … Mit Staatsrecht und Völkerrecht
… Aber auch mit Verbrechen.“
Letzteres
irritierte etwas. Die Dame blickte mich daraufhin leicht verunsichert an, so
als ob sie jetzt überhaupt nichts mehr verstünde. Sprach ich in Rätseln? Also
musste ich deutlicher werden. „Es geht in der Tat um Verbrechen, um schwere
sogar, wenn eklatante
Menschenrechtsverstöße nicht als Kavaliersdelikt angesehen werden!“
„Ach so ist
das!“ gab die Dame erleichtert zurück. „Dann sind sie wohl Anwalt, einer, der
sich für humanitäre Angelegenheiten
einsetzt? Oder sind Sie gar politisch aktiv?“
„Nur im
weitesten Sinne!“ antwortete ich betont reserviert, ohne rechte Lust, die
Materie weiter vertiefen zu wollen: „Im Grunde bin ich nur ein Zeuge! Genauer
gesagt ein Augen- und Zeitzeuge, der einige gesellschaftspolitische
Entwicklungen und Geschehnisse beobachtet hat. Jetzt soll ich dabei behilflich
sein soll, ein Rechtsverfahren einzuleiten, eine Klage auf den Weg zu bringen …
“
Genaueres
wollte ich eigentlich nicht preisgeben. Etwas sträubte sich im mir, über
Persönliches, ja Intimes zu sprechen wie ein Exhibitionist. Weder mit eigenen
noch mit fremden Leiden wollte ich hausieren gehen, indem ich großzügig Details
offenlegte, weil ich befürchtete, nicht verstanden, ja missverstanden zu
werden. Letzteres kränkte. Schließlich klagten nur Dichter, wenn sie litten,
während Philosophen schwiegen. Ich aber war viel zu stolz, zu klagen – lerne Leiden ohne zu klagen, hatte ein weiser
Mann einmal gesagt! Es war schwer, sich daran zu halten. Auch meine bisherigen
Erfahrungen in der Open Society sprachen
gegen zu viel Offenheit. In der Regel fehlte den meisten Menschen im Westen das
Vorwissen, wenn spezifische und makropolitische Fragen erörtert wurden, die
über die deutsche Tagesaktualität hinausgingen. Kaum einer im Westen wusste
Näheres über der Welt hinter dem Eisernen Vorhang …
„Ein Menschenrechtsverfahren?“ wunderte sich
die Dame. Ihr unbefriedigter Gesichtsausdruck stimmte mich wieder um und
veranlasste mich, doch noch mehr zu verraten: „Es geht um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung auf
internationaler Ebene, die im Rahmen der Vereinten Nationen ausgetragen werden
soll. Im Gespräch ist eine mögliche Klage gegen einen totalitären Staat im
kommunistischen Machtbereich, im so genannten Ostblock, in welchem die
Freiheiten und Rechte der Menschen mit den Füßen getreten werden. Sie soll von
Genf aus auf den Weg gebracht werden. Oder, salopp gesprochen, es geht gegen
die Regierung einer Diktatur. Dissidenz und angewandte Menschenrechte im
Ostblock sind Schlagworte der Aktion“, fügte ich dann ergänzend hinzu, doch
mehr verschleiernd als klarstellend, bemüht, eine nationale Festlegung zu
vermeiden. Wer im aufgeklärten Okzident wusste schon etwas über Rumänien? Oder Näheres über die
politischen Verhältnisse in jenem Land, das praktisch vor der Haustür lag und
doch so fern war? Die tausend Kilometer über Wien und Budapest nach Temeschburg
waren unendlich weiter als die gleiche Distanz in die Toskana, nach Lucca und
Siena oder nach Avignon in der Provence. Selbst gebildete Menschen und
Akademiker hatten Schwierigkeiten, osteuropäische Völker und ihre Sprachen
auseinander zu halten. Ungarisch, Rumänisch, Russisch, Polnisch oder Serbokroatisch
klang in ihren Ohren gleich fremd.
Für viele
Westeuropäer waren Rumänen und Ungarn Slawen! Und die Bulgaren waren wohl jenes
Volk, das in Voltaires Candide die
Preußen verkörpert? Was hatte ich nicht alles vernommen in einem Jahr auf
Reisen?
Der gesamte Osten Europas und die Sowjetunion wurden
undifferenziert als ein großes unbekanntes Etwas wahrgenommen, als eine amorphe und zugleich
monolithische Einheit, die dunkel war, fremd wirkte und bedrohlich!
Die
Geschichte des russischen Imperialismus war genauso wenig bekannt wie die
Auswirkungen des Stalinismus. Kurz, die Open
Society kreiste selbstverliebt um das eigene Ich, während ihre
ideologischen Feinde, die Karl Popper
in den totalitären Phänomenen der Neuzeit Nationalsozialismus und Stalinismus
ausgemacht hatte, fast schon in Vergessenheit geraten waren. Der eigene
Egoismus im Wohlstand ersetzte das Gesamtverantwortungsbewusstsein für die
Welt. Der freie Westen, die offene
Gesellschaft Poppers, lebte ahistorisch denkend in einer eigenen Welt, hermetisch
abgeschottet vom Schicksal der osteuropäischen Nachbarn, die durch politische
Kurzsichtigkeit nach Jalta und Potsdam unverschuldet in die Sklaverei entlassen
worden waren, ohne merken, dass die Welt
der maximalen Freiheit und des Liberalismus bereits zur geschlossenen Gesellschaft verkommen
war.
Der unbekannte Osten, wie der deutsche Diplomat Erwin Wickert und Botschafter in
Bukarest eines seiner Bücher überschrieben hatte, war traurige Realität. Ja
selbst der zweite deutsche Staat, die DDR, erst seit wenigen Jahrzehnten vom
Mutterland abgetrennt, schien in Ignoranz getaucht und in Vergessenheit geraten
zu sein, ungeachtet seiner Menschen und gewaltigen Kultur!
Meine
Befürchtungen bestätigten sich erneut. Die Dame blickte mich noch länger mit
großen Augen an, ohne noch allzu viel zu sagen. Hatte ich schon zu viel
verraten?
„Ein
Zeitzeuge sind Sie also - aber sie sind doch noch so jung?“ hakte sie später
fast ungläubig nach.
„Die Zeit
ist schnelllebiger geworden und die Jugend reifer, verehrte Frau“, erwiderte
ich mit leichter Ironie. Es zeichnete sich bereits ab, dass wir bereits
ausreichend konversiert hatten. Bald schweiften die Blicke der Lady ab und
verharrten apathisch in der unbestimmten Weite der rheinischen Landschaft.
Ein weites
Feld, dieser Ost-West-Dialog! Obwohl miteinander geredet wurde und
übereinander, redeten manche aneinander vorbei.
„Schöner
Tag, heute!“ hörte ich sie nach einer Weile noch so dahinsagen plätschernd wie
ein Bach.
„In der Tat!
Und prächtiges Wetter!“ bestätigte ich: „Die Vogesen sind ganz nah. Mit etwas
Glück, können wir bis zum Ballon hinaufblicken.“
Grenzland am Rhein - Le Linge
Das Gespräch
versiegte, noch bevor ich den Diktator beim Namen genannt oder über Widerstand
und Dissidenz gesprochen hatte. Zwischen Orient und Okzident klaffte die Leere,
eine Kluft, die nach einem Diwan
verlangte, nach einer Brücke und nach einer Versöhnung der Spaltung.
Meine
Gedanken schweiften ab, hinauf in die Gipfelhöhen der Vogesen. Dort oben, am Hartmannswilerkopf und bei Le Linge lagen mehrere Zehntausend Tote
aus dem Ersten Weltkrieg; aus jenem Krieg, den die Franzosen den Großen nennen. Sinnlos geopferte
Menschen, in blühenden Jahren vom Wahnsinn patriotischer Pflichterfüllung
hinweg gerafft. Die Senfgasbomben rosteten Leben bedrohend im Boden vor sich
hin. Vernichtungswaffen! Eine Pest der Neuzeit! Daran wollte ich jetzt nicht
weiter denken.
Aufkommende
Müdigkeit vortäuschend, lehnte ich mich diskret zurück und genoss von meinem
bequemen Fensterplatz aus die wechselvollen Farben des Rheintals, die flüchtig
an den Pupillen vorüber huschten. Die Dame antwortete nicht mehr. Sie saß da,
lächelte in sich gekehrt und schwieg.
Mein Blick
erstarrte ebenfalls. Die Landschaft bewegte sich vor den Augen als Bilderfolge.
Manches, was anders war in diesem Dreiländereck, wo drei alte Kulturen
ineinander übergehen, ohne dass die Grenze noch etwas Trennendes hätte, drängte
sich auf.
Ein extrem
kultiviertes Land: Spargellandschaften mit schuftenden Menschen und lindgrünen
Tabakkulturen, üppig gedüngte Maisfelder und strohbedeckte Erdbeerplantagen bis
zum Horizont hin, wo sich gut erkennbar die Gipfel des Hochschwarzwalds
auftürmten, der Belchen, dahinter der Feldberg und etwas abgelegen in einsamer
Höhe Todtnauberg - einst ein Denkort!
Vermutlich
herrschte gerade eine Art Föhn. Der mich kurz durchzuckende, migräneartige
Kopfschmerz deutete darauf hin. Jetzt kamen Ausläufer des Kaiserstuhls in
Sicht; ein frühzeitliches Vulkansteingebilde mit flurbereinigter Terassenarchitektur
und rebenüberwachsenen Hängen. Der Spätburgunder soll hier gut gedeihen. Ganz
oben auf dem Dach des Hügels türmte sich ein Kirchlein auf, das an die himmelan
stürmende Kapelle oben auf der Alb bei Wurmlingen erinnerte, die schon von
Uhland und Lenau besungen worden war.
Eine
Kopfwendung nach links - dort lag an einem Rebhügel mit historischer Ruine
Staufen; jene liebliche Kleinstadt an der Einfahrt zum Münstertal, wo man aus
heimischen Kirschen ein Lebenswasser destilliert und wo der leibhaftige Teufel
einst den weltbeschreyten Zauberkünstler Faustus so an die Wand schlug, dass
sein von Hybris durchdrungenes Gehirn auf dem Misthaufen landete.
Vis-à-vis
von Staufen, am Flughafen Eschbach stiegen gerade mit einem ohrenbetäubendem
Lärm, der selbst das Rauschen des Intercitys übertönte, gerade drei moderne
Kampfjets in den Himmel, den Kalten Kriegern in Moskau die angemessene
Wehrfähigkeit der Republik andeutend - para bellum!
Auf
politischer Bühne hatte der Bundestag mit sozialliberaler Mehrheit unter Kanzler
Schmidt den Nato-Doppelbeschluss fast schon umgesetzt und dafür gesorgt, dass
die Pershing-Raketen der Amerikaner unweit meines Heimatdomizils bei Mutlangen
im Remstal in ihren Silos blieben. Strategie der flexible response nannte man das damals. Die NATO igelte sich ein,
setzte auf Stärke und Wettrüsten, Tag und Nacht bereit, im Aggressionsfall aus
dem Osten die Welt in Schutt und Asche zu legen.
The Day After,
ein apokalyptischer Streifen aus Hollywood, machte uns allen bewusst, in
welcher Gefahr wir lebten. Ein paar Wildgänse konnten uns zum Verhängnis
werden! Doch in der NATO-Zentrale im belgischen Casteau, wohin unser
dozierender General Jürgen Bennecke eingeladen hatte, wurde weiterhin Süßholz
geraspelt. Der Status war unverändert wie die klirrend starre Kälte auf den
Gipfeln links und rechts. Eiszeit.
Symbole
überall - die Welt war voller Sinnbilder und, wie Nietzsche meinte, immer noch
ohne Sinn. Mich faszinierte die Harmonie dieses warmen Landstrichs, in dem
alles üppiger gedieh als sonstwo in Deutschland, auf eine Kulturlandschaft
blickend, die mir später, als liebe Freunde hier eine zweite Heimat fanden,
noch familiärer werden sollte.
Erwin nahm
hier seinen Wohnsitz, mein langjähriger Freund und Streitkumpan aus der Zeit
der Dissidenz; und Dietlinde, das Nachbarsmädel, mit dem ich als Kleinkind auf
dem Misthaufen gespielt und den ersten Hühnerdreck verkostet hatte; ferner
andere nette Menschen aus dem Banat, die bereits Teil meiner Biographie
geworden waren. Irgendwann wollte ich selbst einmal hier im Freiburger Land
länger die Zelte aufschlagen, ganz unten vielleicht, an der unmittelbaren
Grenze zur Schweiz und zu Frankreich - als Grenzgänger
in der Dauer-Grenzsituation, in der ich mich sowieso immer befunden hatte.
Der Zug
rauschte nun schneller werdend auf eben diese Grenzen zu. Ein Blick nach rechts
an das andere Rheinufer - dort lag als Klotz in der Landschaft die Idylle von
Fessenheim, ein Kraftwerk der Sonderklasse aus grauem Beton, das beeindruckte,
weil es makaber wirkte; eine Meisterleistung französischer Ingenieurskunst im
Hochtechnologiesektor.
Vom Rhein
war nichts zu sehen. In seinem Bett dahinsausend kam das Grenzland näher. Noch
ein letzter Blick in die Lörracher Gegend. Die Konturen einer Burgruine, die es
hier im badischen Rheintal häufig gibt, deuteten sich an. Vielleicht war es ein
altes Raubritternest, strategisch postiert über der hohlen Gasse, aus der Zeit
eines Götz von Berlichingen, wo das Wegelagerertum, das heute von Institutionen
und Staaten betrieben wird, noch ein redlicher Beruf war? Und das Wort von Geld
oder Leben noch konkret nachvollzogen werden konnte. Inzwischen war das
Geleitrecht abgeschafft bis auf die Mautgebühr; und die Beutelschneider waren
tiefer nach Süden abgewandert, über den nahen Hotzenwald hinaus in verborgene
Klüfte und Täler oder auf lichte Burgen, wo sie sich immer noch jenseits von
Ethos un Recht den modernen Zeiten anzupassen wussten. Die alten Tage
räuberischer Ritter waren verrauscht, währen die Sitten blieben. Die Welt von
Vor -Gestern wirkte nur verschwommen im Bewusststein nach wie die Geschichten
vom Räuber Hotzenplotz und die Landschaft am Schienenrand, die nie richtig
erfasst werden konnte.
Frankreich!
Schilder auf
der rechten Seite verwiesen auf Mühlhausen, auf das blumengeschmückte Elsass am
Fuße der Vogesen, auf heimatlich empfundene Rosen, Schwalben, Störche - und auf
das welsche Hinterland mit seinem derben Münster-Käse, der gut zum Traminer
passt.
Frankreich!
Das war für
mich zu keinem Zeitpunkt das Land des Erbfeindes, sondern stets ein ganz
besonderer Teil der Erde, ein Arkadien, wo selbst Götter sich wohl
fühlten: ubi bene, ibi patria - diesen Vorwurf hatte ich schon als
Gymnasiast erdulden müssen.
Jetzt reiste
ich wahrlich am Garten Eden vorbei, auf dem Grenzstreifen zweier Vaterländer.
Frankreich galt immer schon als das Land der Sensualisten und Epikureer! Weit
darüber hinaus - war es für mich ein Land der Sehnsucht! Das Land der Freiheit!
Viel von
meiner geistigen Heimat lag dort verborgen, wurzelte dort - wie fernes lothringisch-elsässische
Blut auch durch meine Adern floss, Franzosenblut und Wahlfranzosenblut!
Frankreich
war eine Heimat, die ich als Ideal aufrechterhielt, ohne sie ganz genau
überprüfen zu wollen - aus Angst vor endgültiger Desillusion.
Der Mensch
braucht ein letztes geistiges Refugium, auch im Irdischen.
Dieses
Asylum war für mich Frankreich!
Denn auch
ich war ein später Frankreichbegeisterter aus der langen Reihe vieler Deutscher
durch die Geistesgeschichte; und dies lange nach Heine, der seinen Traum träumte
wie vom fernen Elysium.
Frankreich
war jenes Fleckchen Erde außerhalb Deutschlands, wo ich mich am wohlsten
fühlte, noch besser als im jenem sonnigen Land, wo die Goldorangen blühen.
Hatten die Rumänen vielleicht auch mich angesteckt mit ihrer Paris-Begeisterung?
Bestimmt
nicht! Viel weiter unten warteten südlichere Gefilde, die Gärten der Hesperiden
- das blühende Eden, mein neues Arkadien: die Provence!
Doch diesmal
wollte ich geradeaus.
Den
Rütli-Schwur in den Ohren, dessen aufwühlender Klang und dessen solidarische
Botschaft mich seit meiner Kindheit nicht mehr verlassen hatten, passierte ich
die Grenze jener Alpenrepublik, die es geschafft hatte auch gegen höchsten
Druck ihre Neutralität und Freiheit
zu wahren.
Felix Helvetia – Geld und Freiheit! Oder?
Es war ein
gutes Gefühl, in die Schweiz einzureisen. Sie stand für heimatliche
Geborgenheit, für eine märchenhafte Kulisse unverfälschter Natur, für ein
letztes Stück vom Elysium, für die noch heile Welt des archaischen Menschen in
Goldenen Zeitalter, als weiteres Wunschbild neben Frankreich, dessen Idealität
sich in den Jahren meiner Kindheit bei der Heidi-Lektüre ausgebildet hatte.
Ferner war die Schweiz in meiner von Schiller geprägten Vorstellung ein
freiheitliches Land; ein Hort direkter Demokratie und ein Staat im Herzen
Europas, der über Jahrhunderte die staatspolitische Kunstfertigkeit entwickelt
hatte, sich aus übergreifenden Konflikten herauszuhalten, selbst aus den
verheerenden letzten Weltkriegen, die das Gesicht des Alten Kontinents
veränderten. Die Vereinten Nationen und viele andere internationale
Organisationen residierten nicht zufällig in der Schweiz.
Voltaire,
der große Freigeist seiner nicht immer aufgeklärten Zeit, hatte es einst von
Genf aus der Welt vorgemacht, wie man als Freidenker und selbstbestimmtes
Individuum zwischen zwei Staaten gut existieren kann, ohne den hohen Wert, die Freiheit, preisgeben zu müssen.
Und
Rousseau, der Bürger von Genf, wurde nie müde, der Menschheit zu sagen, was Freiheit wirklich ist.
Unweit von
mir flatterte ein weißes Kreuz auf rotem Hintergrund im Wind und weckte alte
Erinnerungen und vielfältige Assoziationen. Erinnerungen, denen ich mich jetzt
nicht hingeben wollte. Nicht zum ersten Mal bereiste ich dieses kleine Land.
Doch was hatte ich bisher von der Alpenrepublik gesehen? Nicht viel. Die
berühmte Stiftsbibliothek in Sankt Gallen, die man nur in Filzpantoffeln
betreten darf, mit ihrem blitzblanken Intarsienparkett und ihren alten
Folianten. Dann Zürich, die Stadt an der Limmat, wo es mehr Bankhäuser gibt als
Gotteshäuser, Synagogen und Tempel - und wo auch die Verlagshäuser nicht mehr
das sind, was sie einstmals waren.
„Habt ihr
denn auch genügend Fränkli dabei?“ hatte der Kreuzlinger Zöllner vorsichtig
gefragt, als ich als angehender Abiturient, eher abgebrannt als vornehm, kaum
ein Jahr zuvor die Grenze überschritt, um mit Freunden in Zürich meinen
einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern.
War Geld
immer noch das Maß aller Dinge? Oder war es der Mensch, in der Schweiz und über
die Alpenrepublik hinaus? Hatte Protagoras, der Sophist, für den der Mensch den
Mittelpunkt des Kosmos darstellte als das Paradigma und Maß aller Werte, aus
früher Einsicht heraus gerade deshalb als erster einen angemessenen Obolus für
seine geistreichen Sophismen gefordert?
Geld oder Freiheit!
Entweder - Oder? Das war hier die Frage. Schweizer Dialektik? Wie hätte Hegel
sich dazu geäußert oder nach ihm
Kierkegaard?
Ein altes
Thema! Wer bedingt was? Literaten von Weltruf hatten darauf geantwortet. Dostojewski,
der spielende Schriftsteller, sah im Geld ein Mittel zur Freiheit, zur schöpferischen Unabhängigkeit, während der nicht
weniger freiheitliche, zugleich aber auch anarchische Tolstoj Geld und Besitz als neue Formen der Sklaverei wertete.
Beiden Auffassungen konnte ich, der verurteilte Freiheitskämpfer und Anarchist,
gerne zustimmen.
Ambivalenz
lag immer in der Luft, auch hier und jetzt. Das Entweder vernahm ich kaum, dafür aber immer öfter ein deutliches: Oder? Das Wesen des Fragens und des
Rückfragens wurzelte in diesem einen Wort – und das Prinzip des Anderen, der Alternative als Frage und
Antwort – die andere Seite und die andere Individualität, die Freiheit bedeutete.
Während der
Zug auf schweizerisches Territorium fuhr, richtete sich mein neugieriger Blick
diesmal auf die wenig einladende, durchaus nicht romantische
Güterbahnhofskulisse zwischen Weil am Rhein und Basel. Eine Art Niemandsland
machte sich dort breit, ein postindustrielles waste land inmitten der teuren Kulturlandschaft, an deren Horizont
die Betonburgen der Basler Großkonzerne in Erscheinung traten. Ein Firmenlogo
drängte sich auf. Nahezu jeder kannte diese Marke aus dem Supermarkt. Senf
wurde hier produziert und Mayonnaise in Mengen, die ganz Europa zuschütten
konnten. Weltraumtechnik hatte ich hier erwartet! Laser- und Nanotechnologien,
Feinmechanik, Siliziumscheiben, doch keine mittelalterlichen Mixturen, die an
die Anfänge der Alchemie erinnerten. Mich verblüffte die Einfachheit des
Geschäftsmodells, und wie geschickt es einzelnen Lebensmittelgiganten gelang,
mit wenigen elementaren Grundsubstanzen, mit ein paar Senfkörnern,
Sonnenblumenöl und Flüssigei, dank eigener Ingeniosität Produkte der
Alltagsernährung herzustellen, die Milliardenumsätze einbrachten. Die moderne
Müllverbrennungsanlage weiter oben arbeitete nach einem vergleichbaren Prinzip.
Die Schweiz
- das war natürlich auch die Welt der Konditoren und der feinen Schokolade in
allen denkbaren Formen und Geschmacksrichtungen. Schokolade war eine
Leidenschaft - meine älteste Leidenschaft. Mit dieser Passion war ich
aufgewachsen, fern vom tatsächlichen Leiden. Aus ihr bezog ich die Endorphine,
die früh beglückten und linderten.
Schokolade!
Die Kindheit hindurch hatte ich sie täglich getrunken, tiefbraun mit viel Kakao
und Zucker. Und irgendwann, als mir die ewigen Versprechungen der Mutter zu
dumm wurden, kochte ich sie mir selbst aus Milchpulver und Butter zum Baton; zunächst eklig, schwarz
verbrannt mit Schweineschmalz; doch dann immer vollkommener zum wahren
Lebenselixier. Sie war meine Droge, mein Element, mein irdischer Genuss. Ein
Griff zum Koffer - und schon konnte ich ein hauchdünnes Täfelchen auf der Zunge
zergehen lassen.
Die Augen
ruhten nicht, während der Zug langsamer wurde. Es gab viel zu sehen und einige
Hinweise auf die Ästhetik des Hässlichen, die aus der Bücherwelt in die
Realität entflohen schien. In die Industrielandschaft hinein gewoben entdeckte
ich die wenig geschmackvollen Zweckbauten der Pharmariesen, die nicht nur der
Apotheker kennt. Jene anonymen Gesellschaften, die selbst das türkisfarben
schimmernde Wasser des Rheins einfärben; modernistisch rosarot - wie die Farbe
des Himmels in der Morgenröte oder beim Alpenglühen - und so lange, bis die
Fische im Rhein die Orientierung verlieren, sich treiben lassen und mit dem Strom schwimmen.
Doch auch
hier ging man mit der Zeit und passte sich ihren Bedürfnissen an. Auch wenn das
etwas kostete. Wie bei jenem augenlosen Koloss aus Stahl. Ein
Gestaltungskünstler hatte viel Lindgrün eingesetzt, um eine der Monsterhallen
ohne Struktur und Fenster optisch zu entschärfen; eine unverkennbare
Handschrift. Weiter südlich lagen die profanen Betriebsstätten der
tatsächlichen Farbenhersteller und Spezialchemiker, die dafür sorgten, dass der
Westen glänzend leuchtet; und dass die Welt des Kapitals sich hoffnungsvoll
strahlend abhebt vom düsteren Grau sozialistischer Alltagswelt.
Weiter
südlich, im Innenstadtbereich, nahe der berühmten Kunsthalle, ragten die
Monumentalresidenzen der Großbanken empor; auf schweren Säulen und soliden
Fundamenten, in deren tiefen Kellern andere Werte ruhen. Ihre
Unerschütterlichkeit suggerierte Stabilität und Beständigkeit. Das waren
Herzkammern des Kapitalismus, keine altmodische Banken aus der Welt von
Gestern, sondern Dienstleister der Neuzeit, deshalb auch neudeutsch money
center genannt. Dort wird viel vom Vermögen der Welt verwaltet, das nach wie
vor ungleich verteilt ist. Das irritierte mich, doch nur für Augenblicke.
Jeder
Diktator von Welt, der etwas auf sich hält, hat hier mittelbar oder unmittelbar
einige Konten und lässt sein Kapital professionell verwalten - und manchmal,
behaupten böse Zungen, solange waschen, bis es schneeweiß wird wie das weißeste
Weiß der Inuit oder wie der in ewiges Eis gehüllte Gipfel des Mont Blanc.
Schließlich gilt die Schweiz als sauberes Land; und als ein pragmatisches noch
dazu, das äußerst gekonnt auch die paar braunen Flecken auf der historischen
Weste weg zu retuschieren weiß.
Von der
Professionalität schweizerischer Finanzexperten profitierten immer schon viele,
jenseits von Ethos und Moral. Kommunistische Machthaber, die nach willkürlicher
Despotenart ihre Staaten ausplündern, um Familienclans zu versorgen ebenso wie
korrupte Minister aus Entwicklungsländern, die ihre kaum empfangene
Entwicklungshilfe gleich auf die richtigen Nummernkonten umbuchen lassen oder
steinreiche Wüstenbewohner aus der Golfregion, deren restriktive
Geldverleihhürden im Koran geschickt umschifft werden. Auch sie wissen die
Vorzüge des Finanzplatzes Schweiz und die sprichwörtliche Stabilität des
Schweizer Frankens zu schätzen. Die meisten der traditionellen Kunden der
Vermögensverwalter sind Jahre nach ihren Investments oftmals wesentlich reicher
als vorher. Andere, die das Wegelagerertum und die Beutelschneiderei der
Börsenwelt nicht recht durchschauten, fallen schnell auf das materielle
Durchschnittsniveau ihres Entwicklungslandes zurück.
Wer fragte
da nach Transparenz? Wirtschaftsethische Gedanken sausten durchs Gehirn,
Zusammenhänge von Recht und Gerechtigkeit. Dostojewski oder Tolstoi?
Pflichtethik oder Anarchie?
Durfte ich
um Prinzipien besorgt sein? Was scherte mich im Augenblick das Geld anderer
Leute - oder die Philosophie des Geldes, über die einst ein deutscher Professor
ein ganzes Buch geschrieben hatte? Was hätte mir eine moralisch ausgerichtete
Kapitalismuskritik mehr eingebracht als Aufregung und Ärger über materielle
Strukturen, mit denen ich im gesamten Westen leben musste? Und was konnte ich
gerade jetzt gegen die ausweglose Situation der meisten Menschen in der Dritten
Welt tun, die mit einer Hand voll Reis über den Tag zu kommen versuchten?
Die Schweiz, irgendwo ein Spiegelbild der Welt, verwies in ihrer
Ambivalenz auf einen inneren Zwiespalt, auf einen krassen Konflikt, der die
gesamte Welt durchzieht.
Arm und unfrei, reich und mächtig? Die Freiheit
des Kapitals ist oft der Quell chronischer Ungerechtigkeit - weltweit. Und die
kapitalbestimmten Strukturen sind Hemmnisse der Freiheit. Doch das sah ich damals noch nicht so klar. Schließlich
verfolgte ich zunächst andere Prioritäten. Zielsetzungen, an deren Erfolg ich
durch eigenes Mitwirken teilhaben konnte. Für
mich kam es vorerst primär darauf an, den bereits ausgemachten Feind zu
bekämpfen, das totalitäre Machtsystem im fernen Bukarest; dieses vom Westen aus
dort zu bekämpfen, wo es real existierte - jedoch nicht an sich oder aus einer
ideologischen Motivation heraus, sondern im Interesse der Menschen, die noch im
Kerker verharrten. Das war mein Gebot der Stunde.
Unter Basilisken – Kreuz und Kreuz-Gang
Trotzdem
nutzte ich das Umsteigen in Basel, um in einer Pause wenigstens etwas von der
bedeutenden Stadt zu sehen. Mein erster Weg führte natürlich zur weltbekannten Kunsthalle, die ich immer schon hatte
sehen wollen. Doch diesmal beschränkte ich mich noch strenger als in Paris und
London nur auf die architektonische Kulisse, auf den Bau und das Foyer, ohne
für die wertvollen Exponate in den Ausstellungsräumen Zeit zu finden. Erst kam
die Pflicht und dann irgendwann auch Kür und Muße. Danach steuerte ich Basels
Zentrum an, durchstreifte Teile der Altstadt, die ursprünglich und intakt
wirkte, weil hier keine Brandbomben niedergegangenen waren. Am Markt aß ich
eine Bratwurst und betrachtete ganz nebenbei die in prallstes Rot getauchte
Fassade des Rathauses der freiheitlichen Bürgerstadt, deren Wappenträger zu
meiner großen Verwunderung ein Basilisk ist. Auf Basilisken reagierte ich wie
auf Rot - aggressiv wie der Bulle in der Arena; denn mit beiden hatte so meine
Erfahrungen - mit blutroten Flaggen und mit giftigen Basilisken - ferner mit
den roten Basilisken aus der Schlangengrube, die einer besonderen Spezies
angehören.
Das
historische Rathaus imponierte und erinnerte daran, dass auch Freiheiten aus
Traditionen erwachsen. Lieber tot als
Sklaverei, hatten die Germanen einst ausgerufen, bevor sie über Varus
herfielen und dann über Usurpator Arminius selbst. Und die Alemannen um mich
herum, das waren wie die Cherusker Germanen!
Fürwahr,
Zukunft braucht Herkunft – auch im Stadtgeschichtlichen! Nicht nur Menschen,
auch Städte haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Dieses Rathaus sprach dafür,
trotz des Basilisken im Wappen!
Während ich
halb neugierig, halb gelangweilt durch die Straßen des Wohlstands schlenderte
wie andere brave Bürger auch, die ihren Hund ausführen, nichts Besseres im Sinn
als ein winkendes Schnäppchen am Straßenrand, und mit einer Lust, dem Herrgott
die Zeit zu stehlen, verrieten mir die teueren Markenuhren in den Vitrinen der
Juweliere, wie unaufhörlich die Zeit verrann. Embleme der Vergänglichkeit auch
sie! Trotzdem vergeudete ich etwas von der Unwiederbringlichen, indem ich mich
vom Schaufenstergefunkel in allen Farben des Regenbogens ablenken ließ. Was ich
im Zug schon bestaunt hatte, war wieder da in großer Auswahl, nur für größere
Geldbeutel als den meinen.
Obwohl
alles, was selten und teuer war, ausgebreitet vor mir lag, drängte es mich
nicht wirklich, etwas von alledem besitzen zu wollen. Hatte sich nicht schon
Sokrates über Dinge erhoben, die er nicht brauchte? Und noch viel radikaler als
das fragende Schlitzohr dann der verwegene Diogenes von Sinope, der
Selbstgenügsame im Fass? Was nützen Dinge, die der Mensch nicht wirklich zur
Lebensbestreitung nötig hat, fragte später auch Seneca? Und zweitausend Jahre
danach fragte ich es mich auch.
Die
Kontraste waren allzu krass. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch
selbst bitter erfahren müssen, wie Menschen mit einer schmalen Schnitte
Graubrot ihr Überleben fristeten. Und jetzt stand ich vor der Überfülle, die
nicht nur mir dekadent vorkam. Hatten nicht schon die Römer für all das so
begehrenswerte Überflüssige hier vor meinen Augen einen klaren Begriff? Luxus! Was konnte man mit diesem in
unzähligen Facetten funkelnden Hunderttausend-Dollar-Klunker im Ursprungsland
Afrika alles anfangen? Wie viele Wellenblechhütten konnte man damit errichten,
wie viele Reistöpfe füllen?
Die
Kontraste waren überscharf, gerade in der Schweiz, und nur schwer zu ignorieren
wie die Gedanken, die in Gewissenskonflikte mündeten. Wie konnte ich die einst
idealistisch gestartete Welt des Kommunismus im Osten konsequent bekämpfen,
wenn die freiheitliche Gesellschaft des Westens noch so weit von den Idealen
der Humanität entfernt war? Durfte ein Dissident, ein Bürgerrechtler, Partei
ergreifen für eine Seite, deren Unzulänglichkeiten nicht zu ignorieren waren?
Oder musste er auch hier den Zeigefinger heben, den besserwissenden des
rügenden Moralisten, und Kritik üben? Wenn ich: J’ accuse ausrief, schielte ich immer nach Osten! War das nicht
einseitig?
In diesem
Dilemma, das die Unruhe des In-der-Welt-Seins ausmacht, erspähte ich dann
etwas, was selbst ich, der arme Studiosus aus Deutschland, sich in dieser
teuren Stadt leisten konnte. Für wenig Geld war ein zierliches Kreuzchen zu
haben, das an einem noch filigraneren Goldkettchen hing. Es zog mich magisch
an, denn es sah jenem ähnlich, welches ich einst in den Wirren der Ausreise
verloren hatte. „Dieses Kreuz musst du haben!“ sagte mir die innere Stimme. Nicht
des blassen Goldes wegen, sondern aus sentimentalen Gründen, als Sinnbild, als
ein neuer Glücksbringer und als verdichteter Träger von Erinnerungen, von
Freuden wie von Leiden. Im Kreuz hatte sich einiges verdichtet - wie in der
Rose.
Ein
Freigeist, der zum Kreuz greift? Entsprach mir das Symbol wirklich? Es war ein
besonderes Sinnbild, ein individuelles Kreuz. Mein Kreuz stand für Altruismus.
Und es stand für meinen Weg wie ein Wegkreuz, das dem Wanderer die Richtung
weist. Ein Mädchen aus Bremen hatte mir einst ein Kreuzchen in den Brief
gepackt, ein schlichtes Kreuz aus Silber. Und jenes kleine Kreuz hatte mich
durch die ganze Zeit der Rebellion begleitet, drei Jahre lang, bis es mir an
der Gefängnispforte abgenommen worden war. Als es dann bei der Entlassung
wieder auftauchte, hatte es Patina angesetzt; es war schwarz, korrodiert.
In diesem
Moment der Rückbesinnung wurde mir klar, dass ich, der einstige Ketzer und
Spötter, das Kreuz wieder tragen konnte wie früher, nur für mich und auch
offen, ohne innere Diskrepanz zur Christenheit - wie einen Talisman, als
Rückbesinnung auf Ideen, Ideale und auf Werte, die nicht in Panzerschränken
verstaut werden. Das Kreuz war gerade noch erschwinglich. Also erwarb ich es,
entzog mich dem Tumult und legte es an. Sogleich fühlte ich mich geborgener.
Mit ihm war ich nicht mehr ganz allein - und hatte wieder Beistand, himmlischen
Beistand, den Schutz der Engel und der Heiligen als immer noch Verfolgter unter
der gerechten Ägide Gottes. Im Kreuz ist
Heil, hatte ich irgendwo am Wegrand gelesen, an einem Flurkreuz im Feld;
und - wirf deine Sorgen auf den Herrn!
Das war die psychologische Existenzbewältigung der Theologie, zu der der Mensch
in seiner gefühlten Endlichkeit gerne greift, wie der Humpelnde nach einer
Krücke. Und auch ich war nur ein Mensch.
Basel gehört
zu jenen Städten, in denen ich mich damals noch wohl fühlte. Eine freiheitliche
Stadt am Strom, in welcher der Geist der Geschichte pulsierte und überall
präsent war. Die phantasiereich gestalteten Basilisken vor Ort erschreckten
mich nicht. An der Wettsteinbrücke sah ich eine der Figuren und später auch
noch andere Gift hauchende Ungeheuer als Brunnendekoration und Wasserspeier.
Der König der Schlangen war allgegenwärtig!?
Ob gar die
Namensgebung der Stadt mit dem Basiliskenmythos zusammen hing? Thronte hier
wirklich einmal ein Basilisk über der Stadt, ein Lindwurm einem Schwertstoß
entgegenharrend wie jene einsame Pinie über dem Abgrund dem ersten Blitz? War
nicht auch Friedrich Nietzsche hier gewandelt als vereinsamter Professor der
alten Philologien? Und hatte nicht auch er hier über das Ausbrüten des
verhängnisvollen Eies nachgedacht - und einen Vers darauf gemacht? Was doch
alles mit Basilisken zusammenhing! Unangenehmes kroch hoch? Unerfreuliches aus
der jüngsten Vergangenheit, das nur wenig mit Nietzsche-Studien zu tun hatte.
Im fernen Temeschburg hatte ich andere Basilisken erleben müssen und anderes
Schlangengezücht.
Der Weg
hinab zum Rhein machte mich noch nachdenklicher. Er führte hinab durch die
engen Gassen des Spätmittelalters, in denen mir manches auffiel, was ich in
Deutschland nirgendwo zu Gesicht bekommen hatte: Meteoriten Mondgestein … und
weitere seltene und seltsame Dinge, die ich in der prüden Republik nie vermutet
hätte. Doch die Schweiz ist ein liberales Pflaster mit freien Gesetzen und
mündigen Bürgern.
In dem Land,
wo der wehrfähige Mann sein Sturmgewehr im Schlafzimmer verwahrt wie seine
Braut, jederzeit bereit, die Freiheit
des Vaterlandes zu schützen, waren auch Waffen frei käuflich wie die Liebe,
fern von jeder Prüderie; von der Pistole bis zur Kalaschnikow war alles zu
haben. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein aufgeregter Schweizer,
vielleicht in Rückbesinnung auf den Heros Tell, zur Flinte griff und in
Richtung Parlament marschierte, um dort nicht nur auf Äpfel und Tontauben zu
schießen. Anarchie auch hier? Jedes System birgt Risiken in sich - auch das
Prinzip von Freiheit und
Selbstverantwortung.
Das
farbenfrohe Treiben in den Gassen empfand ich genauso angenehm wie den eigenen
Singsang des Schweizerdeutschen durchsetzt mit alemannischen Brocken und
französisch-italienischen Wortfetzen. Der besondere Duft des Marktes verwies
auf südlichere Gefilde, wie seine Fliegen anderes Geschmeiß andeuteten. Nicht
ist es dein Los, ein Fliegenwedel zu sein, mahnte Nietzsche vielleicht
inspiriert von diesem Markt.
Ein Blick in den Strom - Melancholische
Reminiszenz
Weiter unten
stieß ich auf eine steinerne Rheinbrücke aus Sandstein. Der berühmte Blick von
der Brücke drängte sich auf - ein Topos, ein Bild mit Aussicht, das Dichter und
Schriftsteller lieben, besonders die melancholischen unter ihnen. Vom
Misthaufen hatte ich schon hinab geblickt, von den Türmen in Paris - und jetzt
stierte ich von anderer Warte aus in den völkerverbindenden Rhein: Ein
vereinsamtes Boot ruderte beharrlich gegen
den träge dahinfließenden Strom -
und trieb doch ab. Melancholie pur! Sisyphus im Wasser? Wer ruderte schon gegen den Strom? Gegen den Staat? Gegen die Zeit?
Der
vaterländische Rhein floss inzwischen gezähmt durch die Lande, nicht mehr wild
und wuchtig, nicht mehr trennend und spaltend wie zu Zeiten von Nikolaus
Becker, mich an Danubius erinnernd, den brüderlichen Strom gen Osten, der mich
beinahe für immer aufgenommen hatte. Wie in ein romantisches Gemälde versetzt,
aus dem die Wehmut einer Dichterseele hervorschimmert, schon leicht elegisch
gestimmt, senkte sich mein Blick und gewahrte eine Vogelfeder vor den Füßen,
eine Leichtigkeit, dem blau schimmernden Gefieder einer Taube entfallen.
Bückend las ich sie auf und ließ sie gleich wieder mir dem ersten Windhauch
davonfliegen. Und die Brise nahm sie mit und trug sie fort … Sinnend folgte ich
dem schaukelndem Hinabtaumeln durch die Lüfte bis sie die grünbraunen Wogen
berührte und mit dem ziehenden Wasser hinweg schwamm. Lange schaute ich ihr
noch nach und folgte ihrem leichten Dahinschwinden, ohne die aufziehende
Schwermut zu unterdrücken: Sahst du ein
Glück vorübergehn, / Das nie sich
wieder findet, / Ist’ s gut in einen
Strom zu sehn, /Wo alles wogt und
schwindet.//Hinträumend wird Vergessenheit /Des Herzens Wunde schließen;/Die
Seele sieht mit ihrem Leid /Sich
selbst vorüberfließen.
Wer reist,
reist nicht allein. Er führt seine Welt mit sich. Seine Sorgen und seine
geistigen Welten. Lenaus tiefsinnige Dichterworte mussten sich einstellen – und
sie kamen archetypisch aus der Tiefe wie andere Bilder am Wegrand – wie das
Kreuz und die Rose, das Feuer und die Asche. Für das wenige, was ich gewonnen,
musste ich viel aufgeben. Auch ich hatte einiges verloren und sollte - wie
andere Menschen auch – noch mehr verlieren.
Doch Natur
und Dichtung boten Trost … Nach einer langen Weile milder Trauer fand ich
wieder in die Realität zurück, erhob wieder das Antlitz und richtete den Blick
wieder auf weltliche Dinge, auf die nahe Altstadt, die aus dieser Perspektive
wirkte wie in den Tagen Zwinglis – nunc stans auch hier?
Imposant und
unverwüstlich lag sie über mir wie ein märchenhaftes Relikt aus einer noch
heilen Welt. Die Welt um mich stand still; nur im Rhein war alles im Fluss.
Ohne länger zu säumen, stieg ich wieder hinauf und schlenderte weiter. Doch die
Kirchen, an denen ich vorbei kam, blieben mir verschlossen wie dem Sünder das
Himmelreich.
Weshalb die
Protestanten ihre Gotteshäuser vor den Einkehrsuchenden verschließen, blieb mir
ein Rätsel. Wenn Kirchen kein Refugium bieten, keine kühle Linderung an heißen
Tagen und kein Asyl bei Verfolgung, wozu brauchen wir dann Kirchen?
Schließlich
stieß ich durch Zufall unweit des Rheinufers auf einen ehrwürdigen Kreuzgang,
in welchem einige vornehme Bürger der Stadt ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Es
war ein Monument - wie vieles am Rhein - aus rotem Sandstein mit
hundertjährigen Grabstätten aus der Renaissancezeit, aus den Tagen der
Reformation. Epitaphe, teils mit Witz und Ironie in Verse verpackt, erinnerten
den Wanderer daran, dass aller Glanz und Reichtum dieser Welt vergänglich ist,
auch in der Schweiz - Vanitas! Vanitatum vanitas!
Während ich
im staubigen Kreuzgang verweilte, an einem Ort, vom dem ich nicht recht wusste,
ob er schön war oder schrecklich, als ich innehielt und ruhte, in leiser
Ahnung, ein blauer Aspergillus könne aus den finsteren Katakomben herauf
schleichen und meinen Atem für immer lähmen, tödlich giftig wie der Hauch des
Basilisken, merkte ich, wie ein anderer Drang aus dem Unterleib aufstieg. Ein
menschliches Rühren kündigte sich an; eines, das nichts mit dem hehren Gefühl des
Klassikers aus Marbach gemein hatte, sondern recht profaner Natur war. Sogleich
dachte ich wieder erdbezogener und fragte mich ernsthaft, wo die nächste
Urinieranstalt aufzufinden wäre und ob ich mir den Gang zum Pissoir auf diesem
teuren Pflaster überhaupt noch leisten konnte. Das kleine Kreuz hatte eine
Unsumme verschlungen; und jetzt sollte ich wieder Geld ausgeben für etwas, was
kein sparsamer Schwabe gerne einsieht: Für Wassertrinken zahlen? Und für
Wasserlassen auch noch? Also war doch nichts umsonst im Kapitalismus? Und nicht
alles für Nichts, nur für die Katz … Oder für die Basilisken?
Als das
Drängen schließlich stürmischer wurde und bedrohlicher, entschloss ich mich
doch noch, den Regungen der Natur nachzugeben und mir wenigstens den kleinen
Luxus zu leisten, bevor ich das Gleiche nach diszipliniertem Ausharren und
Verkneifen im Zug umsonst haben konnte. Auch wenn es sich für einen alten
Stoiker nicht ziemte, gleich schwach zu werden und loszurennen … non licet ….
meinte Epiktet … den Schwächen des menschlichen Körpers nachzugeben und von
Zeit zu Zeit seine Notdurft zu stillen. Epiktet hatte als vollendeter Denker
der Stoa die Kontrolle seiner Blase ebenso gut im Griff wie mein anderes
Vorbild, der göttliche Epikur und Gartenphilosoph, der selbst große Schmerzen
zu unterdrücken wusste, ohne krampfhafte Regungen zu zeigen. Nur ich, ein
aufgeklärter Mensch der Neuzeit und bürgerlicher Dekadent, sah die Dinge
lockerer, suchte nach einem Fränkli, den ich in das Wohlbefinden zu investieren
bereit war und bahnte mir den Weg zu jenem Örtli, wo der Mensch seinen wahren
Himmel findet - und göttliche Erleichterung. Doch erzählen wollte ich diese
Begebenheit niemandem. So etwas war unfein, also tabu! Nicht nur in der
Schweiz. Non licet, eben! Oder?
Idylle – oder: Wer manchmal eine Reise tut …
Nach diesen
wechselvollen Erlebnissen eines modernen Simplicissimus in der Basiliskenstadt
am Strom, wo ich später einmal ganz andere Ungeheuer erleben sollte, begab ich
mich wieder zu den etwas altmodisch anmutenden, grün gestrichenen Zügen der
Schweizer Bahn und reiste dann über Bern und das welsche Freiburg weiter nach
Genf.
Es wurde
eine schöne Reise. Allmählich kam die Schweizer Bergwelt in Sicht. Eine
aufgeschlagene Karte verdeutlichte mir, was ich in der Ferne sah. Zunächst
fielen mir die gewaltigen Felsen des Aargaus auf. Ein steinreiches Land,
fürwahr! Nach zahllosen Tunnelpassagen und schwarzen Löchern kündigten sich
endlich die schneebedeckten Viertausender des Aarmassivs an. Die Jungfrau in
Stein! Der Mönch … Die todbringende Nordwand?
Dieser Teil
der Schweiz war zumindest nicht weniger reizvoll als der gerade erst passierte
Breisgau nebst dem Markgräfler Land, deren nachhallende Eindrücke die
gegenwärtigen Empfindungen überlagerten. Wie viel Erhabenheit erträgt ein
Mensch – und wie viel Schönheit erspähen seine Augen?
Nun ging es
weiter in die Alpenrepublik hinein, über hohe Eisenbrücken, an tiefblauen
Flüssen vorbei. Auf historische Ortschaften schaute ich hinab, mit altem
Fachwerk, mit verwittert bleichen Häusern und Schuppen aus Eichenholz,
vermerkte die zahlreichen protestantischen Kirchen mit einem Gockelhahn auf dem
Turm, die mir sagten, dass ich wirklich im Land von Zwingli und Calvin
angekommen war. Im schnellen Vorbeisausen erspähte ich selbst einen Tempel der
Mormonen, dessen grauer Turm hoch in den Himmel ragte - als Werbung für
diejenigen, die nach religiösen Alternativen suchten und als weiterer Hinweis
darauf, dass in einem freien Staat
auch Toleranz aller Religionsfreiheit keine Fremdwörter sein dürfen. Hundert
Religionen und hundert Saucen! Voltaire und Rousseau hätten bestimmt nicht
protestiert!
Die Freiheit hat viele Gesichter - auch
eudämonistische und lukullische!
Während
Wälder und Felder an mir vorüber zogen wie auf der Leinwand im Kino, gewahrte
ich arbeitende Menschen und sorglos spielende Kinder und sah, wie aus dem Homo ludens ein Homo faber wird. Jeder betrieb fromm sein Spiel. Die Kugel rollte.
Der Würfel fiel. Nur manche zinkten die Karten.
Anthropologie
rollte vor mir ab, nach der Welt der
Anthroposophie, die ich bei Dornach gerade passiert hatte - Rudolf Steiner
hatte viel über die menschliche Freiheit nachgedacht und eine Philosophie der Freiheit verfasst -
menschheitsgeschichtliche Sprünge in verdichteter Form in Ären, Epochen und Äonen!
Frisch kam
mir in den Sinn; und Dürrenmatt! Und dann der tiefsinnige Othmar Schoeck, ein
Tonsetzer aus der großen Familie der Melancholiker, dessen Kompositionszyklen
ich vor allem deshalb kannte, weil Lenau ihn durch sein gesamtes
kompositorisches Leben begleitet hatte, mit Gottfried Keller und Robert Walser,
vom frühen Opus bis zum letzten. Auch Schoeck stand irgendwo für die Eigenwilligkeit der Schweizer - im Denken,
in der Literatur und in der Musik … Und Eigenwilligkeit
war mir sympathisch, denn ohne eigenen Willen wurden keine Gesetze gebrochen,
und ohne ihn gab es auch keine Andersdenkenden, keine Ketzer, keine Reformer
und keine Dissidenten. Tell war der erste Rebell, zu dem ich aufblickte!
Dann kamen: Rousseau, der Bürger, und Voltaire, der Wahlschweizer!
Landschaft
und Natur wandelten sich. Das Heilige und das Profane lagen dicht beieinander.
Was war was?
Mehr
gelangweilt als interessiert, blickte ich auf gut ausgebaute Bunker, die
manchem Betrachter verborgen blieben und auf olivgrün angemalte, ebenso gut
kaschierte Militärfahrzeuge. Ferner sah ich romantische Bilder am Wegrand,
äsende Rehe am fernen Waldsaum und weidende Milchkühe mit Rieseneutern, die
mehr Milch produzierten als die Schweizer zu Käse verarbeiten konnten.
Frei
herumlaufende Mastschweine entdeckte mein Auge, Borstenvieh, das ich zwar in
den Niederungen der Walachei, jedoch nie in der so zivilisierten und sauberen
Schweiz erwartet hätte.
Und ich sah
- wie einst André Gide auf seiner Reise durch den Garten Eden - kaum Misthaufen
oder Mist. Der Nasen und Augen verätzende und zum Himmel stinkende Gülledampf,
der mich fast in Ohnmacht warf, war nur zu riechen, wenn ich gerade Mal aus
Sehnsucht nach frischer Alpenluft die Nase aus dem Fenster steckte.
Weiße Punkte
tauchten auf, mitten im satten Grün - es war Freilandgeflügel; Gänse, Enten,
Truthähne, ja selbst Strauße aus Südafrika konnte ich erkennen, die in der
kühlen Schweiz heimisch geworden waren. Sie steckten den Kopf in den Sand oder
blickten einfach weg, wenn ihnen etwas nicht gefiel - und sie passten sich an
wie Chamäleons und Basilisken, die es sicher hier auch irgendwo gab, nur gut
getarnt hinter Decknamen und Deckfuntionen.
An den
Berghängen weideten Ochsen und Kälber; selbst Jungstiere sah ich, Angus und
Charolais - ferner viele, viele glückliche Schafe, die meditativ die
Bergkräuter wiederkäuten und das Weideglück der Herde genossen, sicher weniger
mit ihrem Schicksal hadernd als der Philosoph von Sils Maria und ihre biederen
Besitzer. Waren die glücklichen Sklaven tatsächlich die ärgsten Feinde der
Freiheit?
Auf dieser
unfreiwilligen Erkundungsreise kamen auch die Gewässer nicht zu kurz: tobende,
weiß aufschäumende Wildbäche, die über den Fels schwappten, um frei in die
Tiefe zu stürzen; türkisfarbene, ruhig dahin fließende Flüsse wie die Aare, von
kunstvoll gezimmerten Holzbrücken überspannt; friedliche, stille Seen, in deren
sauerstoffreichem Eiswasser sich Fische wohl fühlten und an deren Ufer sich
märchenhafte Siedlungen mit Bootshäfen dahinzogen. Das alles war die Schweiz: Ein Postkarten-Bergidyll, das an das Goldene
Zeitalter der Menschheit erinnerte, an eine Welt ohne Kriege, ohne
Nationalitätenkonflikte, in Sicherheit und Wohlstand - für alle.
Und - Überall Urlaub - so brachte es ein
russischer Wissenschaftler auf den Punkt, als er mir das Deutschland südlich
der Mainlinie beschreiben wollte. Das galt noch eindeutiger für die Schweiz, wo
es überhaupt keine Probleme zu geben schien - aus dem fahrenden Zug betrachtet!
Oder?
Der große Diktator
Irgendwann
erreichte der Zug Biel, das die Welschen Bienne nennen. Dort war man seit
Generationen damit beschäftigt, die Zeit zu messen und teure Uhren zu
konstruieren. Mein ferner Bekannter Vlad Drăgoescu, ein politisch verfolgter
Architekt aus Bukarest, hatte in Biel Asyl gefunden. Über Amnesty International hatten wir uns kennen gelernt, die ihn
adoptiert und in der Zeit der politischen Verfolgung in Rumänien betreut
hatten. Wir standen nunmehr in Briefkontakt.
Nach Biel
änderten sich die Ortsschilder und vermutlich auch die Mentalität. Jetzt ging
es hinein in die französischsprachige, in die welsche Schweiz. Vorerst
konstatierte ich nur den sprachlichen Unterschied, nicht mehr. Vielleicht war
der Zug zu schnell. Gelegentlich verließ ich den mir teuren Fensterplatz, legte
Karte und Reiseführer aus der Hand und ging im Korridor des Zuges auf und ab,
um möglichst viel von der mir noch unbekannten Gegend zu sehen.
Viele Jahre
hatte ich depriviert, eingeschränkt und eingesperrt leben müssen. Jetzt bot
sich mir die Gelegenheit, zahlreiche Eindrücke unterschiedlicher Art zumindest
visuell zu erfassen. Immer noch war ich wissbegierig und interessierte mich für
alles, was Erkenntnisgewinn versprach. Obwohl ich schon manches gesehen hatte,
nahm ich neue Eindrücke immer noch auf, wie ein trockener Schwamm einen
Wassertropfen aufnimmt, mit einer gewissen Gier und Lust zugleich. Die
Befürchtung, etwas zu versäumen, war groß.
Mal nach
links, Mal nach rechts blickend, genoss ich die immer pittoresker werdende
Umgebung. Unweit deutete sich der Lac Gruyére an, ein Freizeitparadies, wo auch
die Schweizer gerne Urlaub machen mit der märchenhaften Kleinstadt aus dem
Mittelalter, umgeben von dicken Festungsmauern und Türmchen. Alphornbläsern
kann man dort lauschen und einen einzigartigen Käse probieren, dessen
Reservequalität zum Besten gehört, was aus Kuhmilch erzeugt werden kann. Ja,
aus Greyerz stammte der Favorit unter meinen Lieblingssorten, ein Käse der
Sonderklasse, den ich dem Appenzeller vorzog, obwohl letzterer mehr
demokratischen Urgeist eingeatmet hatte, aber auch etwas Frauenfeindlichkeit.
Ich aber liebte die Emanzipation und die frauliche Frau dahinter!
Schokolade! Käse! Und kein Mist! Doch viel Geld, das man - um des
schnöden Mehrwerts willen - streuen soll
wie Mist! Das alles war die Schweiz!
Auf der
rechten Seite kam jetzt Fribourg in Sicht, das schweizerische Freiburg. Als Handlungsreisender in
Sachen Freiheit war mir das wiederum
sympathisch. Neben den Franzosen, die für ihre Liberté auf die Barrikaden gingen und sich für Gerechtigkeit und
Brüderlichkeit abschlachten ließen, verstehen auch die Schweizer etwas von Freiheit. Ihre Verfassung erinnert daran
und ein Kernsatz daraus. Seit Tells Zeiten haben die Eidgenossen den hohen Wert stets gehegt, gepflegt wie
ein seltenes Pflänzchen - wie ein Edelweiß - und ihn bis heute erhalten.
Irgendwann kam dann endlich der lange erwarte Lac Leman ins Blickfeld, der
majestätische Genfer See, umgeben von einer eindrucksvollen Landschaft mit schicken
Nobelvillen und grünen Rebhängen.
Steinreiche
aus aller Welt lebten hier, Leute, die sich – fern jeder Verpflichtung – nur
über ihren Besitz definierten, Fürsten,
Hoheiten, gekrönte Häupter und - fern von allen - der König der Komödianten -
Charlie Chaplin, ein Unverstandener, ein ewiger Idealist auch er.
In seiner
Hitlerpersiflage Der große Diktator,
die zu dem köstlichsten gehört, was je in jenem Genre zu dem traurigen Thema
produziert wurde, ist alles antizipiert, was das Wesen eines Gewaltherrschers
ausmacht - bis hinein in die Einsamkeit des Tyrannen und in die Krankheiten
jener Einsamkeit. Die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus ist in dem
Film unübertrefflich vorweggenommen, auf satirische und parodistische Art. Er
kam in die Kinos noch bevor der Weltenbrand einsetzte. Und er hätte ihn mit
verhindern helfen können, wenn er nicht als Propaganda abgetan und
missverstanden worden wäre. Immer wenn ich ihn sah, berührte er mich, selbst
ermüdet in tiefer Nacht - wie mich Witz und Geist eines Heine oder Nietzsche
berührten. In der Diktatur, aus der ich kam, wussten nur wenige von diesem
Streifen - und die allerwenigsten hatten ihn je auf der Leinwand gesehen!
Weshalb wohl?
Im See
spiegelte sich das Sonnenlicht. Lausanne kündigte sich an, eine andere freie
Stadt am See, in deren Mauern ein kleiner, unscheinbarer Mann mit seiner
Familie Zuflucht gefunden hatte - ein zarter Dichter aus Rumänien.
Symphonie der Freiheit
Symphonie der Freiheit
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
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