Herbst 1989 - Revolutionäre Umbrüche in Ost-Europa - vom
Sturz des letzten Diktators und vom Ende einer Epoche
Es war im Oktober 1989, genau zehn Jahre
nach meiner Heimkehr. Die Zeit der Ernte, die Zeit, den Lohn langer Arbeit
einzufahren. Auch für mich. Im September war meine Lenau-Monographie erschienen, eine Studie über einen großen Dichter
aus dem Banat, an der ich etwa fünf Jahre gearbeitet hatte - im Verborgen fast
und nur im Dienst der Wissenschaft. Mein Idealismus hatte sich verlagert und
einen neuen Forschungsgegenstand entdeckt - die Literatur-Geschichte. Auf der
Frankfurter Buchmesse konnte ich bereits meinem Verleger aus der Distanz dabei
zusehen, wie er den Band in der Hand wog, ihn kritisch beäugte und ihn dann
ausstellte. Der Verkauf lief überraschend gut. Er wirkte zufrieden. Und ich,
der wissenschaftliche Jungautor, der etwas hybrisdurchdrungen eine müde dahin
schleichende Lenau-Forschung ankurbeln wollte, war es zunächst auch noch.
Dann reiste ich in das politisch schon
instabile Ungarn nach Mosonmagyarovar, um im Rahmen einer Lenau-Tagung mein
Buch vorzustellen. Viele Hoffnungen verbanden sich mit dem Projekt. Wer lange
gesät, gehegt, gepflegt, gezittert und geschwitzt hat, will irgendwann einmal
die Früchte seiner Taten genießen, in stiller Anschauung und Kontemplation.
Auch ich.
Doch es kam anders - auf vielen Ebenen.
In dem memorialistischen Parallelwerk zur Symphonie,
in: Gegen den Strom – Deutsche Identität
und Exodus, das diejenigen lesen sollten, die noch mehr und genaueres über
das Davor und Danach wissen wollen, berichte ich auch aus dieser kritischen
Zeit.
Die Leipziger Freiheitsdemonstrationen
wurden heftiger. In Prag wurde die Deutsche Botschaft von Flüchtlingen
überrannt. Das Regime in Ostberlin, für alle sichtbar am Ende, verfiel in
Apathie. Michail Gorbatschow forderte die Einlösung der von ihm
auf dem Weg gebrachten Reformen ein - die Umsetzung von Glasnost und Perestroika,
auch in der DDR. Schließlich nahm die Idee der Freiheit überhand und fegte das morsche Regime seniler Altkommunisten
einfach weg. Die Mauer fiel - und mit ihr das Bollwerk des Ostblocks, dessen
politisches System den Weltfrieden bedroht hatte.
Während
dieser Zeit, als meine aktive Dissidenz bereits mehr und mehr in den Hintergrund
trat, schwappten die revolutionären Ereignisse auch auf Rumänien über, in die
letzte und finsterste Bastion eines real existierenden Sozialismus. Im Geist
von Glasnost und Perestroika war es auch dort bereits vor Jahren zu individuellen
Widerstandsbewegungen gekommen; 1987 zum großen Aufruhr von Kronstadt in
Siebenbürgen - und jetzt folgte, an einem Funken des religiösen Protests
entzündet, die Temeschburger Revolution.
Etwas von der Saat freiheitlichen Aufbegehrens, die wir Bauernjungen und Gärtnersöhne
aus dem Banat einst ausgebracht hatten, schien auf fruchtbaren Boden gefallen
und aufgegangen zu sein. In meiner Geburtsstadt, die Dissidenten wie Ana
Blandiana und Dorin Tudoran hervorgebracht hatte, tobte in den ersten
Dezembertagen des Jahres 1989 ein kleiner Bürgerkrieg. Panzer fuhren auf.
Maschinengewehre ratterten. Geschosse peitschen durch die Luft und töteten
Menschen, darunter zahlreiche Unbeteiligte und Friedfertige.
Was war
geschehen? Als der ungarische Pfarrer Tökes gegen seinen Willen und im Dissens
zu geltenden Bestimmungen der Amtskirche von seinem Wirkungsort in Temeschburg
entfernt und in einen entlegenen Ort im Landesinneren versetzt werden sollte,
um so von seiner treuen Gemeinde abgeschnitten zu werden, entschlossen sich
seine Anhänger zum Widerstand.
Zunächst
rebellierten Gläubige der ungarischen Minderheit aus Temeschburg und
widersetzten sich offen der staatlichen Willkür, die ihnen mit Pfarrer Tökes
einen geistig-religiösen Führer und oppositionellen Kristallisationspunkt rauben
wollte. Nachdem sich immer mehr Rumänen der Rebellion angeschlossen hatten,
erfassten die Unruhen weite Teile der Josephstadt und griffen unmittelbar
danach auf ganz Temeschburg über. Bereits nach wenigen Tagen befanden sich
ganze Landstriche des Banats und somit der westliche Landesteil Rumäniens in
hellem Aufruhr.
Selbst
im beschaulichen Sackelhausen vor den Toren der Stadt fielen Schüsse und
forderten Opfer. In wenigen Tagen starben, wie man heute weiß, allein auf den
Straßen von Temeschburg mehr als 150 Menschen - Kämpfer, Revolutionäre, Unschuldige,
viele von ihnen im Kampf für das Ideal der Freiheit
als politische und individuelle Selbstemanzipation. Von offizieller Seite aus,
namentlich aus den Desinformationszentralen der Securitate, wurden astronomisch
übertriebene Opferzahlen nach außen vermeldet, um damit den Einsatz des
Militärs gegen Zivilisten zu rechtfertigen.
Fünfzigtausend
Tote sollte es gegeben haben und mehr - Zahlen die von westlichen Medien, die
kaum wussten, wo Temeschburg lag, bereitwillig und unkritisch übernommen
wurden. Als der Aufruhr der Massen gegen die Diktatur im Land seinen Lauf nahm
und sich bereits eindeutig zur nicht mehr friedlichen revolutionären Bewegung
steigerte, saß ich konsterniert vor dem Fernseher und verfolgte, tausend
Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, die Ereignisse auf den Straßen, auf
denen ich meine Jugend zurückgelassen hatte. Von der zweitgrößten Stadt des
Landes ausgehend, weiteten sich die revolutionären Ereignisse innerhalb von
kaum zwei Wochen auf andere Regionen aus, ergriffen weitere urbane Zentren im
Landesinnern, einschließlich die Hauptstadt Bukarest. Dort kam es zur offenen Revolte.
Rebellen, die Barrikaden errichtet hatten und zur Ausweitung der Massenerhebung
aufriefen, wurden von Repressionseinheiten der Securitate und loyalen Teilen
der Armee gnadenlos niedergemetzelt.
In der
Weihnachtszeit, wo die Christliche Welt Einkehr halten und besinnliche Tage der
Harmonie erleben wollte, fielen 1989 in den Straßen der Hauptstadt mehr als
tausend Menschen, bevor der hohe und im damaligen Ostblock einmalige Blutzoll
zur Ablösung der letzten Schreckensherrschaft in Osteuropa führte.
1000
Menschenleben - wofür? Nach Berlin, Budapest und Prag!
Für die
Freiheit in allen ihren Formen! Für das freie Leben nach der lange währenden
Diktatur! Markanterweise vollzog sich der Sturz von Diktator Ceauşescu und
seiner ebenso machtbesessenen Gattin vor den Augen der Welt. Jeder Fernsehzuschauer
konnte realitätsnah mitverfolgen, wie ein vom eigenen Volk zurückgewiesener
Ceauşescu strauchelte, wankte und fiel - und wie mit ihm nahezu paradigmatisch
- verdrängt von der Wucht der Freiheit,
die Zeit der Diktatoren in Osteuropa endgültig zu Ende ging.
Es war
ein Schlüsselereignis - und doch auch nur die Konsequenz von Abläufen, die mit
der ungarischen Grenzöffnung, der Botschaftsbesetzung in Prag und den
Herbstdemonstrationen in Leipzig begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die
Berliner Mauer bereits von Mauerspechten durchlöchert worden und faktisch gefallen.
Die Grenze zur ehemaligen DDR war seit zwei Wochen für beide Seiten durchlässig
geworden. Und ich hatte mich gleich am ersten Tag der Grenzöffnung von Coburg
aus nach Thüringen begeben, um dort freudig empfangen zu werden und in tausend
bewegte Augen zu blicken.
Der Eiserne Vorhang riss irreparabel an vielen
Stellen. Siebzehn Millionen Deutsche fanden ihre Freiheit wieder, Abermillionen
Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Balten und bald auch Rumänen. Der
Ostblock löste sich allmählich auf und mit ihm das große Völkergefängnis
Sowjetunion, aus dem ganze Staaten in die Souveränität entlassen wurden. Die Menschen
in Europa und in der Welt durchlebten damals weltgeschichtliche Tage,
ergreifende Tage der Freiheit und der Hoffnung, an deren Genese auch mancher
Oppositionelle und Dissident aus unseren Reihen eine winzige Kleinigkeit mitgewirkt
hatte.
Jetzt
bekam unser Tun von damals einen neuen Sinn. Ein märchenhafter Traum wurde
wahr. Literatur, Forschung und Wissenschaft traten für mich für kurze Zeit in
den Hintergrund. Die Erhabenheit des historischen Augenblicks ließ alles Profane
weichen. Wie viele Millionen Menschen im Alten Europa und in anderen Teilen der
Welt, saß auch ich täglich vor dem Fernseher, manchmal fast rund um die Uhr,
und verfolgte gebannt wie euphorisiert politische Veränderungen und Abläufe, an
deren Verwirklichung ich selbst schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Wie
andere Landsleute und Patrioten gewahrte ich mit Staunen, wie die politischen
Kontrahenten von einst, Willy Brandt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher,
Richard von Weizsäcker und andere stimmgewaltige Volksvertreter die Worte Einigkeit und Recht und Freiheit sangen;
und ich fühlte, wie der lange von vielen deutschen Patrioten geträumte Traum
von der deutschen Einheit näher rückte. Aber ich sah auch die zerknirschte Mine
von Margret Thatcher, die Deutschland so sehr geliebt hatte, weil es gleich
zwei davon in Europa gab und den versöhnlicheren François Mitterand, der mit
der Tatsache leben musste, dass es, ungeachtet aller Menschenopfer in den Weltkriegen,
immer noch mehr Deutsche gab als Franzosen. Gleichzeitig vermerkte ich aber
auch die wohlwollende Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika als
Gegengewicht, an deren Spitze ein Präsident stand, der noch ein Staatsmann war
und der den eigendynamisch abrollenden Triumphzug der Freiheit noch aus früheren Erfahrungen heraus zu würdigen wusste.
George Bush, der Vater des weniger begnadeten und wenig glückhaften US
Präsidenten gleichen Nachnamens, hatte als Diplomat den Kommunismus in Maos
Reich ausgiebig beobachten können, um die richtigen Konsequenzen daraus zu
ziehen, um sich auf die Seite der freiheitlichen Versöhnung zu schlagen und des
Zusammenklangs - nicht nur für Deutsche, um ihnen die Einheit zu bringen, sondern
für alle bis dahin unterjochten Völker Osteuropas als ein Akt der Wiedergutmachung
für das nach 1945 erlittene Unrecht.
Während
ich vom Rausch der Ereignisse ergriffen im Fernsehsessel hin und her rutschte,
rollte vor meinen Augen große Geschichte ab, besondere Geschichte, einzigartige
Geschichte - deutsche Geschichte. Und ich verfolgte die welthistorischen
Ereignisse als Betroffener, teils exzessiv unter Adrenalinauswirkung wie
früher, teils als Staunender wie vor der Enigmatik des Universums. Gleichzeitig
schielte ich tief in den Osten hinein, nach Temeschburg, nach Bukarest, nach Rumänien,
Bulgarien und in die langsam zerbröckelnde Sowjetunion Michael Gorbatschows und
somit in eine Welt, mit der ich längst noch nicht abgeschlossen hatte.
Emotional war ich noch dort - und mittendrin, obwohl mein Lebensweg weiter nach
Westen drängte, über den Ozean hinaus, in die Neue Welt, bis nach Amerika
vielleicht.
Unmittelbar
nachdem ich an Weihnachten 1989 zum ersten Mal die deutsche Landesgrenze in die
lange von Sowjets besetzten Gebiete überschritten und die Menschen der
dahinschwindenden Pseudodemokratie erstmals in Freiheit erlebt hatte, bestieg ich mit Erwin ein Flugzeug nach New
York.
Die
Amerikareise war bereits vor Monaten geplant worden, zu einem Zeitpunkt, als
die turbulenten Umwälzungen des Spätherbstes in ganz Osteuropa noch nicht
erahnt werden konnten. Wer hätte solche Entwicklungen voraussehen können? Es
war bereits unser zweiter Trip in die Vereinigten Staaten, in das immer noch
viel bewunderte Land der großen Freiheiten
und Möglichkeiten. Seit der ersten Erkundungsreise in den imaginierten
Garten Eden, in das moderne Schlaraffenland, wo immer noch Milch und Honig
flossen, waren fünf Jahre verflossen. Wir hatten damals einen Winter in Florida
erlebt - mit halbreifen Apfelsinen, die ein plötzlich einbrechender Frost auf
dem Plantagenboden verstreut hatte. Wir hatten tief verschneite Appalachen
gesehen, dann aber auch ein sonnenverbranntes Kalifornien ohne Regen, die
Mohave-Wüste und das Tal des Todes - und ein depressives Amerika der Bodenspekulanten,
das danieder lag wie die Preise an der Wall Street: ein Amerika in der
Rezession.
Doch
diesmal, zwei Jahre nach dem Großen Crash, wollten wir andere Dinge erleben, schönere,
erhabenere Sachen. Diesmal wollten wir unbedingt auch die Statue der Freiheit aus der Nähe betrachten, deren
Miniaturausgabe ich einst in Paris bewundert hatte. Während wir vom
weihnachtlichen Würzburg aus zum Frankfurter Flughafen aufbrachen, tobte in den
Straßen von Bukarest noch immer ein undurchschaubarer und blutiger Bürgerkrieg, dessen Ausgang ungewiss war.
Ein bloßes Wegsehen war ebenso unmöglich wie das Mitfühlen mit den Menschen im
Revolutionsgeschehen, schon gar nicht für Betroffene. Der Geist eilte schon
nach New York voraus, während das Herz noch in Temeschburg verweilte, in den
Straßen an der Bega, woher immer neue Horrorgeschichten an unser Ohr drangen.
In Bukarest tobte ein Bürgerkrieg. Chaos überall, Nebelschleier und Buschtrommel.
Bewusst aufnehmen konnte ich nur das, was über die Nachrichtensender und
Fernsehkanäle kam. Allerdings klang das meiste davon widersprüchlich und
irreal. Was war Information, was gezielte Desinformation? Wer bezweckte was?
Teile der Armee schossen auf Teile der bewaffneten Securitate. Dabei verloren
innerhalb von Tagen gute tausend Menschen ihr Leben, unter ihnen viele Unbeteiligte.
Ein paar Kampfszenen aus der Hauptstadt, deren Straßen uns noch in Erinnerung
waren, hatten wir beide noch vor der Abreise über den Bildschirm flimmern sehen.
Sie glichen den Tumulten in Temeschburg: überall Tote, Mythen, Mären,
Schreckensmeldungen, irreal anmutende Horrorgeschichten, in welchen sich Fiktion
und Wahrheit mischten, doch wenig Konkretes. Es knallte im Fernsehen - wie in
einem Kinostreifen mit John Wayne. Und immer wieder fragte ich mich, wer schoss
auf wen? Wer hatte überhaupt Waffen, um auf andere zu schießen, außer der
nationalen Armee und dem Sicherheitsdienst Securitate? Und was sollte die
plötzlich in die Welt gesetzte Mär von arabischen Terroristen, die irgendwie in
das Revolutionsgeschehen eingegriffen haben sollten? Wer streute diese Meldungen?
Wer lenkte die Nachrichtenagenturen und das staatliche Fernsehen, nachdem der
Diktator abgetreten war? War das nur gezielte Ablenkung, um obskuren Einzelakteuren
zu einem Coup d’etat zu verhelfen? Vieles erschien mir undurchschaubar - schließlich
hatte ich seit zehn Jahren das Land verlassen.
Der Lotse geht von
Bord! Und die Ratten folgen … auf den Thron - Deja- vu?
Der
Diktator war inzwischen vom Dach des Zentralkomitees aus mit einem Hubschrauber
geflohen. Nun jagte er wie ein Verfolgter durch das eigene Vaterland - und
keiner wollte ihm Zuflucht gewähren. Keiner der vielen Speichellecker, die zwei
Jahrzehnte von seiner Gunst profitiert hatten, wollte den Flüchtling aufnehmen.
Nun, wo sich das Blatt endgültig zu wenden begann, lockte es keinen der
einstigen Vasallen, den über alles geliebten Sohn des Volkes aufnehmen zu
wollen. Keiner wollte dem Schöpfer der Gesellschaft
des Lichts Obdach bieten. Und
keiner wollte den Titan der Titanen beherbergen und beschützen!
Nicolae
Ceauşescu, noch vor Stunden ein Gigant und Übermensch, war plötzlich ein Strauchelnder
und Fallender, nur noch ein Pygmäe, ja ein Homunkulus gar. Nutzlos geworden,
war die lästige Drohne auf einmal aus dem Bienenstock geschubst worden - sie
war überflüssig und somit reif für das Schafott! Fraß die Revolution ihre
Kinder erneut auf - wie die Ungeheuer im Mythos und wie Stalin und Marat,
Danton, Robespierre in der historischen Wirklichkeit?
Nur von
der rankünehaften wie intriganten Elena begleitet, streunte Ceauşescu durch seine
walachische Heimat wie ein Aussätziger, wie einer jener vielen Vagabunden im
Land, die er mit seinen Dekreten in die Gefängnisse verbannt hatte, nun selbst
vogelfrei wie ein Schwerverbrecher im Wilden Westen. Der Steckbrief fehlte noch
an den Zäunen. Doch Ceauşescu war längst zum Abschuss frei gegeben, von seinen
Ziehsöhnen und einstigen Gegnern, die nun bereit waren, seine Stellung
einzunehmen. Der Despot hatte die Zeichen der Zeit verkannt, nicht anderes als
Honecker und Schivkov.
Aus der
kurzen Flucht wurde ein unwürdiges, demütigendes Trauerspiel, das an
byzantinische Grausamkeiten erinnerte. Sein Volk, dem er so manches unfreiwillige
Lichtjahr beschert hatte, lies ihn plötzlich fallen. Das Genie der Karpaten, der Fixstern, vor dem die Sonne erblasste,
stürzte ikarusgleich wie ein verglühender Komet in ein schwarzes Loch.
Etwas
von letzter Verlassenheit, ein Gefühl, das mancher politische Dissident im Land
hatte in einsamer Zelle hatte erleben dürfen, wurde nun auch ihm zuteil. In
einer düsteren Kaserne nahe der alten Herrscherresidenz Tîrgovişte, wo Vlad der
Pfähler 10. 000 Türken auf grausamste Weise auf Eichenpfählen hatte aufspießen
lassen, erlebte der Held der Arbeiterklasse Nicolae Ceauşescu sein Golgotha.
Der Zufall hätte keinen schrecklicheren Todesort auswählen können! Der Horror
der Geschichte und mit ihm etwas von dem Terror, den er selbst gesät hatte,
holte ihn jetzt ein und wurde ihm zum Schicksal. An jener Schädelstätte, wo Wüterich
Vlad einst strafend spießte und siedete, wurde das Diktatorenehepaar von einstigen
Untertanen festgesetzt. Wie schon mancher Bojar, Fürst und gekröntes Haupt vor
ihnen wurden sie dann von denselben Vasallen vor ein Schnellgericht gestellt, abgeurteilt wie deutsche
Widerstandskämpfer, bald darauf einem Exekutionskommando überantwortet - und mehr
provisorisch als standesrechtlich hingerichtet. Tragische Entwicklungen rollten
ab, fern der abendländischen Kultur - byzantinische Grausamkeiten am Rande
Europas!
Das
alles verfolgte ich aus der Ferne mit Grausen und Verwunderung, ohne zu
begreifen, dass die gesamte freie Welt halb ohnmächtig, ja gelähmt zusah, ohne
einzuschreiten. Da ich den Menschen Ceauşescu nie gehasst hatte, kam diesmal
sogar Mitleid auf und Abscheu vor der Praxis, staatlich sanktionierte
Lynchjustiz zu üben, nur aus Gründen des politischen Kalküls und der Staatsräson!
Staatsanwalt
und Henker waren rasch gefunden. Man hätte auch unseren Richter Niculai Busuioc
herbei zitieren können. Er hätte als gehorsamer Diener seiner Herren die zugewiesene
Aufgabe vorbildlich erledigt - aus Liebe zur Pflicht und zur Wahrheit.
Doch
andere waren näher am übernationalen Handlungsgeschehen und schneller. Hier
konnten sie sich die Sporen verdienen. Einmalige Chancen winkten. Einen
Diktator mit zur Strecke gebracht zu haben, war das keine Empfehlung für die segensreiche
Zukunft?
Strippenzieher und Marionetten,
Wendehälse und Chamäleons
Als der
selbst erklärte Lotse mit der Arbeiter-Kappe von Bord gedrängt wurde, folgten
ihm die Ratten schnell; doch nicht ins Wasser und in den Abgrund, wie
seinerzeit in Hameln; sondern hinauf auf den Thron. Ein quicklebendiger Diktator
gleicher Herkunft und fast gleichen Schlages löste schnell den bald schon toten
Tyrannen ab.
Die Wende! Die Umkehr und die Kehre!? Die
Zeit der Wendehälse, die Zeit der Chamäleons brach an, ganz nach dem Muster aus
den Bruderstaaten. Das Paradigma des Neuwerdens lief bereits in der DDR ab.
Viele
Abläufe des Kommenden konnten dort zeitverzögert in großen Zügen nachverfolgt
und realitätsnah studiert werden. Es war der Einstieg in eine neue Zeit. In
eine Zeit des Umbruchs, wo aus loyalen Funktionären der Nomenklatur über Nacht
Patrone wurden, die das Land unter sich aufteilten wie das Fell des Tanzbären,
der noch exekutiert werden musste oder das Purpur Christi unter dem Kreuz.
Dabei wurden, wie überall und zu allen Zeiten auf der Welt, die vielen Armen,
denen schon immer alles gehört hatte, wieder einmal vergessen.
Das
Fähnlein hatte gedreht. Jetzt ging’s nach neuen Meeren. Neuer Wind kam auf und
mit ihm kamen neue Herausforderungen. Was zählten da die Taten von vorgestern?
Die Vasallen von gestern schritten mutig zur Tat; und sie machten - ganz im
Geist Robbespieres und einer gleichmachenden
Internationale - reinen Tisch und dem einstigen Conducator, dem Führer, der Lichtgestalt der neuesten Zeit, einen Kurzen Prozess!
Fast
wollte ich den Bildern nicht recht trauen, als sich vor den Augen der Welt jene
Ironie des Schicksals vollzog: genauso wie man uns vor den Kadi gezerrt hatte,
stand nun Ceauşescu vor seinem eigenen Volksgerichtshof,
von ihm einst bestellten Richtern ausgeliefert, für die Rechtsbeugung zum guten
Ton gehörte.
Da stand
er nun, der geliebteste Sohn des Volkes -
als Opfer eines Systems der Willkür, das er selbst ausgebaut und gegen
andere eingesetzt hatte!
Schon wieder
ein Deja vu-Erlebnis? Auf den
Landesvater, geflohen wie König Karl und König Michael, kam der Jüngste Tag zu
und das Jüngste Gericht. Die Könige hatten überlebt und nicht schlecht weiter
gelebt. Doch dem Diktator winkte der Schlund der Hölle! Wieder einmal verschlang eine Revolution ihre eigenen Kinder - und,
wie es schien, mit großem Genuss!
Staatsanwälte
und Richter hatten ihre Freude daran. Ihr neues System, das den Rumänienkenner,
nicht nur fern an die Vergeltungspraktiken Vlad des Pfählers erinnerte, war
ebenso rücksichtslos wie gnadenlos. Der in Ungnade gefallene Führer, ein
Bewunderer des grausamen Walachenfürsten Vlad Ţepeş, wurde nun genauso unwürdig
und beleidigend behandelt wie seit den Anfängen des Stalinismus im Nachkriegsrumänien
Regimekritiker, Dissidenten und anders denkende Bürger nach seinen Verdikten
und Edikten behandelt worden waren.
In der
juristischen Farce jenseits aller Legalität, in jener Groteske, die unsensibel
vor der Weltöffentlichkeit ausgestrahlt wurde, um zu signalisieren, dass mit Ceauşescus Ende auch das Ende des Kommunismus in Rumänien
angebrochen war, wurde er, der übermächtige Führer von gestern, der nicht den
geringsten Widerspruch geduldet hatte, genauso schäbig behandelt wie ein
Straßenköter oder ein Bandit, ganz nach den Spielregeln des Systems, das er selbst
herangezüchtet hatte. Plötzlich blieb von dem einst absolutistisch regierenden
Despoten, der an Selbstherrlichkeit selbst den Sonnenkönig übertrumpfte, nur noch ein großes Nichts übrig, ein verhöhnendes
Du!
Nach
Robbespiere, Marat, Saint-Juste, Danton …war es jetzt Nicolae Ceauşescu, der
Bauernsohn aus Scornicesti, der vom langen Arm der Arbeiterrevolution erreicht
wurde! Die Bewegung, die einst mit dem Sturm auf den Winterpalast des Zaren begonnen
hatte, fraß erneut ihre eigenen Kinder, um sich dann für immer aufzulösen. Oder
war es die Schergen der Konterrevolution, die ihm jetzt den Garaus machten? Ceauşescu
hätte es wissen können, wenn er während seiner Kaderausbildung in Moskau die
Geschichte der Französischen und der Bolschewistischen Revolution aufmerksamer
studiert hätte.
Der über
Nacht antiquierte Diktator wurde reduziert, eingedampft zur Nummer, zum
Schrumpfkopf, zur Fratze - und dies von den eigenen Leuten. Also wiederholte sich die Geschichte doch!?
Und das Grauen der Geschichte! Vlad Draco winkte wie Kapitän Ahab – aus der
Hölle!
Die
Marionette hatte ausgedient. Vielleicht war er schon zu Lebzeiten nicht mehr
als eine mumifizierte Puppe, eine hohle Larve, die nur eine von Moskau vorgegebene
Rolle vortrug, eine Nummer, die einen Platz ausfüllte, aber jederzeit ersetzbar
war.
Die
eigentlichen Entscheidungen wurden längst von anderen Strippenziehern getroffen,
von geschickten Wendehälsen und Chamäleons, die sich selbst einen galanten
Ausgang sicherten, indem sie die inzwischen ungeliebte Führerfigur absägten.
Die Drohne hatte ihre Schuldigkeit getan - sie durfte weichen.
Die
Farben wechselten wie die Stimmungen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es
noch Möglichkeiten und Kontrollinstanzen, die Chamäleons und Wendehälse der DDR
zu beobachten. Wer sollte diese Aufgabe in Rumänien übernehmen? Die Götter im
Olymp vielleicht? Oder die wenigen in ein unfreiwilliges Exil gedrängten, weit
versprengten und weltanschaulich uneinigen Dissidenten? Die Untergrundkämpfer
und Ruhiggestellten im eigenen Land?
In Polen
avancierte der schlichte Arbeiterführer Lech Walesa zum Staatschef!
In
Tschechien der differenziert denkende Intellektuelle Vaclav Havel!
Was
wurde aus den rumänischen Oppositionellen? Sie wurden entweder korrumpiert oder
kurzfristig als moralisches Feigenblatt vereinnahmt. Bald darauf wurden
kritische Intellektuelle ruhig gestellt, indem sie entweder in wenig
einflussreiche Pöstchen abdrängt - oder, was am einfachsten war, gleich nach
altem Muster diffamiert und diskreditiert wurden. Irgendwann löste sich das
gesamte kritische Oppositionspotential in Luft auf - keiner von ihnen übernahm
wirklich politische Verantwortung.
Kein
Zwangsexilierter wurde rehabilitiert. Schon Monate nach dem Sturz wurden
Bürgerrechtler und Menschenrechtsaktivisten einfach nicht mehr gebraucht. Jene
aus dem Westen schon gar nicht.
In freier Luft - oder: Der
letzte Diktator Europas … Im Staub!
Als
unser Flugzeug Minuten nach dem Start in höhere Sphären aufgestiegen war,
wurden Zeitschriften verteilt. Eine braun gebrannte Stewardess reichte mir
eines der bekannteren Nachrichtenmagazine Amerikas, ich glaube, es war die Newsweek, mit einem Lächeln. Gut gelaunt
grinste ich zurück. Doch das Schmunzeln verging mir wieder, als der sich
senkende Blick das Titelbild erfasste. Ein verschwommenes Foto war darauf zu
sehen, das Bild einer am Boden liegenden, verzerrt ins Leere starrenden Leiche:
Es war Ceauşescu - im Staub! Das Unschöne, ja Schreckliche als Wahrheit! Der
Schock wirkte. Für Momente zuckte ich zusammen wie einer, dessen Seele tief berührt
wird. Doch bald fing ich mich wieder und stupste den fast schon eingenickten
Freund mit den Worten:„Schau dir das Mal an! Da liegt Ceauşescu … Tot! In einer
Lache Blut!“
Erwin
übernahm das US-Nachrichtenmagazin und sah sich das Foto lange an. Es schien,
als ob ihn die Echtheit der Botschaft nicht überzeugte. Wir hatten so manche
Finte erleben müssen. War das nun wieder nur ein alter Trick aus der Wunderkiste
der Securitate, ein inszeniertes Manöver, die Weltöffentlichkeit zu täuschen?
Eine Fotomontage vielleicht? Eine neue Maskerade, um Zeit für den Gegenschlag
zu gewinnen? Einige Andeutungen Erwins gingen in diese Richtung. Doch seine
Kommentare blieben karg. Schließlich gab er mir die Zeitschrift zurück, in dem
er lakonisch bemerkte, dies sei das wohlverdiente Ende einer Drohne. Scheinbar
wollte er nicht weiter darüber reden.
Für ihn
war eine Ära zu Ende, die eigentlich eine Epoche sein wollte - ein Zeitalter
des Lichts! Sein Blick richtete sich seit Jahren auf Amerika, wo er, ungeachtet
der erlebten Rezession, ein noch freiheitlicheres Leben erwartete als in der
Bundesrepublik Deutschland. Das Individuum lebe dort noch freier, glaubte er.
Mit der Vergangenheit in dem kommunistischen Staat hatte mein Streitgefährte
seit seiner Ausreise abgeschlossen. Zumindest glaubte er, dass es so war. Für
ihn war mit der Zäsur ein weiterer Ring in der persönlichen und historischen
Entwicklung vollendet. Die Geschichte konnte wieder eine Unperson aufnehmen,
eine, die negative Geschichte geschrieben hatte - wie andere hundert Tyrannen
seit der Antike. Wieder eine Marionette weniger!?
Doch was
war mit dem System des realexistierenden Sozialismus? Hatte es sich selbst
überlebt?
Was
wurde aus den Opfern? Wer wurde überhaupt rehabilitiert? Wann wurden wir
rehabilitiert - und zumindest symbolisch entschädigt?
Und was
wurde aus dem Repressionssystem, das über Jahrzehnte Angst und Terror verbreitet
hatte?
Was
wurde aus der berüchtigten Securitate? Wurde sie nur formal aufgelöst, um bald
darauf unter dem neue Namen SRI eine Renaissance zu erfahren - selbst im
EU-Staat Rumänien? Fragen über Fragen!
Was
wurde aus dem Nationaleigentum, für das alle
geschuftet hatten. Teilte der Apparat es jetzt unter sich auf - unter dem
Deckmantel kapitalistischer Strukturen und mit dem Segen der Europäischen
Union? Auch ohne Treuhand und ohne die früheren Besitzer mit einzubeziehen?
Und auf
viele Antworten darauf warte ich noch heute!
Wir
beide lebten nunmehr zehn Jahre in Freiheit
und hatten die Umbrüche der letzten Jahre seit Gorbatschows Umkehr interessiert
mitverfolgt; vor allem aber die dramatischen Ereignisse vor dem Fall der Mauer
mit tiefer Anteilnahme über die Medien erlebt.
Wir
sahen den bewegenden Ereignissen zu, innerlich aufgewühlt mit einem Gefühl
eines in Erfüllung gehenden Traumes, einer lange gehegten Aspiration - und mit
der Satisfaktion des frühen Mauerspechts, der erste Risse vertieft hat, nicht
ganz ohne Stolz, am Lauf dieser positiven Wendung der Geschichte würdig
beteiligt gewesen zu sein. Manche Dinge sah ich ähnlich wie mein Begleiter.
Andere nicht. Wir waren beide eigentlich nur noch partiell betroffen. Doch ich
war an der Dissidentenfront geblieben und hatte noch Jahre nach meiner Ausreise
vom Westen aus weiter agiert, um demokratischen Strukturen in Land meiner
Geburt zum Durchbruch zu verhelfen. Deshalb war ich emotional noch festgelegter
als der Kampfgefährte und Freund.
Menschenrechte
für alle - das war mein Leben. So einfach war das Heft des Handelns auch jetzt
nicht aus der Hand zu legen - die Pflichtethik sprach dagegen und das Prinzip
der Verantwortung, das jeden bestimmt, der die Welt gestalten will.
Erwin
war wieder einmal eingenickt. Während er von der Freiheitsstatue träumte, von
ungeahnten Möglichkeiten und schönen Tagen in einer besseren und gerechteren
Zukunft aller Menschen, blätterte ich weiter in dem Magazin, sah mir weitere
Schreckensbilder an und las einige Details über die chaotische Flucht des einst
so mächtigen Staatsmannes, dem über Jahrzehnte keiner zu widersprechen wagte.
Über den Zinnen von New York - Tragisches
Finale mit Happy End
Die Feuer der Erhebungen und Revolten von
Temeschburg und Bukarest waren verraucht. Die Glut war verglüht. Und jetzt lag
der letzte Diktator Europas im Staub, der Schmach und der Vergänglichkeit
preisgegeben. Aus einer grotesken Figur war eine tragisch-komische geworden.
Und kaum jemand weinte ihm eine Träne nach.
Das
Unfassbare war geschehen. Die kommunistische Ära in Rumänien schien zu Ende zu
sein und mit ihr der Kalte Krieg und die Ost-West-Konfrontation in Europa. Darüber
hinaus hatte der Kommunismus, der einst als Emanzipation der unterdrückten
Völker gestartet war, weltweit als egalitäres Gesellschaftsmodell abgedankt.
Der Hort des Kommunismus, die glorreiche Sowjetunion, zerfiel bald in viele
bisher klein gehaltene Einzelstaaten.
Brach
nun eine Zeit der Harmonie und des allgemeinen Wohlstands an, eine Zeit der Freiheit in all ihren Formen und für
alle auf dem Alten Kontinent?
Immer
noch bebte ich leicht vor innerer Betroffenheit. Denn solche Nachrichten waren
nur schwer zu bewältigen. Erst nach Stunden des Flugs kehrte etwas Ruhe ein. In
das lichte Blau des Himmels starrend, ließ ich mich von symphonischer Musik aus
dem Walkman berieseln.
Diesmal
waren es keine aufbrausenden Töne, keine Beethovensche Symphonie, die mich
erregte; ich hörte liebliche Klänge, himmlische Musik, wie sie nur einer
komponieren konnte - Mozart. Ich hörte das Adagio des Klarinettenkonzerts - jenseitige
Musik, Musik des endgültigen Abschieds und der Wiederkunft. Fast in Trance
vernahm ich Musik der Sphären voll kosmischer Harmonie. Jede elegische Stimmung
war plötzlich verflogen, jeder Alptraum gebannt. Die Seele ruhte aus und sehnte
sich nach mystischer Versenkung. Ein Prinzip hatte triumphiert - die Freiheit!
Also gab
mich ganz der Musik hin und mit ihr der unaussprechlichen, unendlichen Freiheit bis das Konzert im großen
Finale kulminierte - und dann: ein Paukenschlag!
Verstört
schreckte ich auf. Mozarts Zaubermusik war dahin. Es war der Gong, der mich so
unsanft aufgeweckt hatte, gefolgt von der bestimmten Aufforderung, die Gurte
anzulegen. Es war kurz vor der Landung. Mein Blick schweifte durch das
Bullauge.
Wir
kreisten bereits über den Zinnen von New York. Das Flugzeug flog eine Schleife,
um das jenseits des Hudsons gelegene New Jersey anzufliegen. Die Wolkenkratzer-Skyline
kam jetzt in Sicht mit dem markanten Empire State Building und dem
Blitzableiter, der in den Himmel ragte. Während das Flugzeug an Höhe verlor und
sich schnell der Metropole näherte, deutete sich die Südspitze dieser
Megalopolis an: Manhattan, die Skycraper-Landschaft mit einem Postkartengesicht,
dem noch keine Schneidezähne fehlten, ein Bild mit den vor wirtschaftlicher
Dynamik strotzenden, unverwüstlich erscheinenden, und alles überragenden Twin
Towers in Silber, zu deren Höhen ich schon von unten aus geblickt hatte. Und
dann, der Südspitze vorgelagert, weit draußen vor dem Hafen im Meer ein
Feuer-Symbol, das für die gesamte Nation so wichtig war. Als Kind hatte ich
jenes schlichte Wahrzeichen Amerikas auf den kleinen Briefmarken bestaunt, die
regelmäßig zu Weihnachten und Ostern zu uns fanden, oft achtlos von Briefboten
in den Schmutz geworfen. Jetzt gewahrte ich das Monument in volle Größe. Unter
mir, noch in der Ferne, doch schon gut erkennbar, ragte auf einem hohen Podest
eine Figur aus der Flut, eine aufrechte Gestalt, dem Koloss von Rhodos nachempfunden:
eine engelsgleiche Frau mit brennender
Fackel in ausgestreckter Hand! Es war ein Symbol, das das revolutionäre
Frankreich den bedrängten amerikanischen Freiheitskämpfern geschenkt hatte als
Geste der Solidarität und Zuversicht: Die Werte Liberté, Egalité, Fraternité - und somit die Ideale der
Französischen Revolution - sollten in der freien, neuen Welt ihre Verwirklichung
finden als ethische Maximen und regulative Ideen der Humanität.
Jetzt
sah auch ich die Statue, auf die
Amerikas Pioniere hoffnungsvoll geblickt hatten, bevor sie als Einwanderer an
Land gingen - und ich erkannte jenes Denkmahl, das wie kein anderes eine Idee
verkörpert und diese in die ganze Welt hinausstrahlt - die Freiheit!
Epilog: Quo
vadis, Romania?
Im Rausch der Freiheit
- Rumänien unmittelbar nach der
Revolution
Der
Dichter, der bereits in den Stunden des Umsturzes vor das Mikrofon trat, um seinen
Landsleuten sowie der gesamten Weltöffentlichkeit mit wahrem Pathos und
aufrichtiger Begeisterung den Sieg des Volksaufstands und die wieder gewonnene Freiheit zu verkünden, war Mircea Dinescu. Für Momente sah es
damals so aus, als hätte auch in Rumänien ein Ideal triumphiert; als sei die
Diktatur für immer erledigt und mit ihr das kommunistische System, das sie erst
ermöglicht hatte. Doch dieser Eindruck täuschte.
Nur
wenige Tage nach dem Umsturz, der bald darauf von vielen Rumänen nur als Coup d’ Etat, als Staatsstreich und als Parodie einer Revolution angesehen
wurde, und dies, obwohl dabei nahezu tausend Menschen ihr Leben lassen mussten,
übernahmen die Altkommunisten um den aus zweiter Reihe aus dem Hut gezauberten
Altstalinisten Ion Iliescu die politische Macht.
Waren
Mircea Dinescu und andere oppositionelle Intellektuelle, die in den Augenblicken
des Umbruchs - wie auf Regieanweisung - kurz in das Rampenlicht rückten,
bewusst instrumentalisiert worden? Hatte man sie vorausgeschickt, um die aufgebrachte
Stimmung der Massen in eine bestimmte Richtung zu lenken?
Vieles
spricht dafür. Denn schon kurze Zeit nach dem vermeintlichen Sieg der Revolution
wurden die kaum erst befreiten Dissidenten, Schriftsteller und andere
Kunstschaffende wieder ins Glied zurück gedrängt und der politischen Bedeutungslosigkeit
überantwortet, während anderswo in Europa der Dramatiker Havel und der kecke
Arbeiter Walesa zu Staatschefs erhoben wurden. In Rumänien blieb zunächst, das
heißt weitere sieben Jahre, alles beim Alten.
Wer war
Mircea Dinescu eigentlich? Was wussten wir von ihm und seiner Dichtung? Während
die meisten rumänischen Literaten im Land sich in Konformismus übten; während
sie schrieben und veröffentlichten, was die kommunistische Partei von ihnen
erwartete - eine Auswahl solcher Kunstkreationen findet sich in der von Virgil
Ierunca im Pariser Exil zusammengestellten Anthologie
der Scham ; während selbst Autoren deutscher Zunge Sprache damit
beschäftigt waren, das Wertesystem ihrer Ahnen literarisch der Lächerlichkeit
preiszugeben; während die wenigen Dissidenten im Land bitter verfolgt, zu hohen
Haftstrafen verurteilt und in die Gefängnisse geworfen wurden, war Mircea Dinescu
einer der wenigen Charaktere in der Intellektuellenszene, die Zivilcourage bewiesen
und aufmuckten.
Noch in
diktatorischen Zeiten, als das Rebellieren die bekannten Konsequenzen nach sich
zog, trat er als sympathischer junger Rumäne auf, der kein Blatt vor den Mund
nahm, als einer, der frank und frei
alles aussprach, was ihm durch sein phantasiereiches Gehirn ging - und dies
beharrlich über Jahre hinweg in Lyrik und in Prosa. Im Westen wurde davon kaum
etwas registriert. Eigentlich wussten nur wenige Eingeweihte, die im Rahmen der
bestehenden Informationsmöglichkeiten die oppositionelle Szene des Ostens
beobachteten, von dem poetisch-moralischen Protest, dem Nonkonformismus und der
systemkritischen Haltung des Dichters.
Poesie und literarische Opposition - Dichter
Werner Söllner liest aus Dinescus Lyrik
Man
schrieb den 18. November 1989. Es war irgendwo im Frankfurter Raum, in Offenbach
vielleicht, in einem öffentlichen Saal. Eine Dichterlesung war angesagt. Werner
Söllner, ein Dichter aus der Arader Gegend im Banat, ein paar Jahre älter als
ich, seit 1982 im Westen, stellte seinen jüngsten Gedichtband vor. Und - über
eigenen Gedichte hinausgehend - noch ein paar aktuelle Verse aus Feder von Mircea
Dinescu, die zu einem Bändchen zusammengefasst, gerade taufrisch vorlagen.
Beider Werke waren bei Suhrkamp erschienen, in einen Verlagshaus mit Sinn für
deutsche Kreationen aus Rumänien, das auch Texte von Pastior, Wichner, Hodjak
und früher auch von Goma edierte. Söllner, ein Freund Dinescus, hatte die Gedichte
aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragen.
Die
Veranstaltung war gut besucht. Neben mir saß Ion Solacolu, in dessen Armen vor
einiger Zeit Caraion verstorben war, vom Demokratischen Kreis der Rumänen in
Deutschland, der als liberaler Publizist Dialog
herausgab, mein früherer Mitstreiter aus Genf, exzellenter Beobachter
politischer Ereignisse in Rumänien und im Exil. Als Förderer und Editor
literarischer Werke war er nicht weniger neugierig als ich selbst, was an
kritischer Dichtung auf uns zukam. Dann ging es los.
Söllner,
der neben William Totok bald als einer der wenigen Kreativen aus Rumänien in
Deutschen Fernsehen über die Entwicklungen in Rumänien Auskunft erteilen konnte,
las zunächst aus seinem Band Kopfland. Passagen.
Wir hörten Gedichte, verschlüsselte Lyrik und lyrische Reflektionen eines
Poeten, der den Raum seines Seins und Wirkens unfreiwillig hatte wechseln
müssen; subjektive Auseinandersetzungen mit der Welt, die so war, wie sie war -
und in die er, wie später im Gespräch mit Stefan Sienerth vom IKGS bekundete,
einfach hineingeboren war. Politische
Zwischentöne und Zeitkritik lagen in den Versen verborgen und manches, was sich
zum Teil erst nach späterer, tiefergehender Relecture erschloss.
In der
zweiten Hälfte der Lesung ging Söllner zur Lyrik seines Freundes aus Südrumänien
über und las aus Mircea Dinescus neuestem Gedichtband Exil im Pfefferkorn. Es wurde noch stiller.
Angespanntes
Interesse lag in der Luft und ein Hauch von besonderer Erwartung, die nicht
enttäuscht wurde. Denn fast fünf Jahre nach der von Michael Gorbatschow
losgetretenen Liberalisierungsbewegung Glasnost und Perestroika war Osteuropa
am Ende - bis auf Rumänien, wo ein uneinsichtiger Diktator sich verbissen an
die Macht klammerte. Durch Ostdeutschland hallten immer noch die Wir sind das Volk-Rufe. Und die
deutsch-deutsche Grenze sollte bald für immer offen sein. Doch was tat sich in
Bukarest und im weiten Land Rumänien?
Etwas
von dem heraufziehenden Aufruhr dort, poetische Präludien der Revolution,
konnten von feineren Ohren aus der vorgetragenen Lyrik Dinescus heraus gehört
werden. Wir hörten zu - und das merkten die Kunstverständigen schon nach
wenigen Versen, wir vernahmen neue, ungewohnte Töne, in einer kräftigen und
originellen Sprache!
Viel
Mutiges und manches Kritische war dabei; vor allem Gedanken, die auf eine
baldige Veränderung der Gesellschaft abzielten und Ideen, wie ich sie vorher
bei keinem der deutschsprachigen Dichter im Banat oder Siebenbürgen vernommen
hatte.
Werner
versah die auch stellvertretend für Dinescu signierten Gedichtbände mit dem
Datum - es waren gerade noch drei Wochen bis zur Revolution von Temeschburg und
dem Auftakt zum Sturz der Diktatur in Rumänien!
Nach der
Lesung diskutierten wir ausführlich über die Gründe seiner Ausreise, über die
literarischen Schaffensbedingungen im Westen, über Lyrikrezeption und über die
Bedingungen künstlerischer Arbeit im vorrevolutionären Rumänien, speziell über
die arg beschnittenen Freiheiten, überhaupt noch Poesie produzieren zu können
und als Dichter oppositionell tätig zu sein.
Freiheit als Mittel der
Demokratie und der schwierige Umgang mit der Freiheit aus der Sicht des
kritischen Poeten Dinescu
Was
konnte Poesie in einer Diktatur leisten und bewirken? Gab es so etwas wie eine
kulturelle Résistance? Weil es keine
freie Presse und kein Fernsehen gab, haben die Leute versucht, aus unseren Fiktionen die Wahrheit heraus zu erfahrenen,
formulierte es Dinescu 1990 im Rückblick in einem Vortrag in Augsburg.
Er
gehörte allerdings zu jenen verschwindend wenigen Köpfen, die es gewagt hatten,
auch angesichts persönlicher Bedrohtheit und Gefährdung durch den Repressionsapparat
konkreter zu werden. Dinescus Gedichte, die in Rumänien damals nicht erscheinen
durften, zeugten von einer wirklichen
literarischen Opposition.
Nachdem
ich 1979 Rumänien verlassen hatte, ging die Opposition gegen das kommunistische
Regime im Land, deren tatsächliches Ausmaß erst nach der Revolution bekannt
wurde, weiter, auch im Literarischen. In den späten 80er Jahren betraten mutige
Charaktere den Plan: Doina Cornea und Ana Blandiana zunächst; und dann - sehr
selbstbewusst und furchtlos - eben Mircea Dinescu.
Nachdem
er sich öffentlich mit den regimekritischen Dichtern Dan Deşliu und Dorin
Tudoran solidarisch erklärt hatte, durfte er selbst nicht mehr literarisch
publizieren. Der Maulkorb der verbotenen Dichterin Ana Blandiana galt nun auch
für ihn!
Am 17.
März 1989 veröffentlichte die französische Zeitung Libération, ein Blatt, das oft auch über die Freie Gewerkschaft
rumänischer Werktätiger SLOMR berichtet hatte, ein Interview mit dem Dichter,
in welchem Dinescu allegorisch klagt: In
Rumänien läuft die Wahrheit mit zerbrochenem Schädel herum, doch die
Schriftsteller eignen sich nicht zum messerscharfen Umgang mit der Realität,
weil man sie zu Schönheitschirurgen der Macht bestellt hat. Als Folge
dieser Klartext-Äußerungen wurde der Dichter zur Unperson erklärt. Er verlor
alles und überlebte bis zum Tag der Befreiung durch Revolutionäre im staatlich
verordneten Zwangsaufenthalt am Wohnsitz mehr schlecht als recht - aber er
überlebte.
Wer war
nun prädestinierter über die tatsächlichen Verhältnisse in seinem Land nach der
Revolution zu reden als Mircea Dinescu? Goma und Caraion hatte einiges nach
ihrer Exilierung zu berichten - und Dinescu hatte es nach dem Zwangsaufenthalt
und dem Befreitsein auch. Wie sah er nun den Umbruch zur neu gewonnenen Freiheit und den Umgang der Menschen mit
dieser Freiheit?
Im seit
jeher toleranten und protestantisch aufgeklärten Augsburg, wo ihm die dortige
Universität in aller Eile die Ehrenbürgerwürde verlieh, als zeitgemäße
Würdigung seines mutigen Eintretens für Freiheit
und gegen Totalitarismus, sagte der Dichter: Es gibt eine Redewendung, die sagt, Du wirst ernten, was Du gesät
hast. In Rumänien hat man vierzig Jahre lang Hunger, Angst, Kälte und
Dunkelheit gesät, und wir können jetzt nicht erwarten, Licht und Christlichkeit
zu ernten. Denn wir finden uns heute in einem Volk wieder, das die Ketten zwar
abgeworfen hat, das aber von seiner Freiheit verwirrt ist. Das Volk ist wie
jener Löwe, der in Gefangenschaft geboren wurde und nach seiner Befreiung
einige male um den Käfig kreist, dann aber sehr versucht ist, in den Käfig
zurück zu kehren, um seinen Schlaf fortzusetzen.
Dinescu
glaubt an die Notwendigkeit einer moralischen und sozialen Realphabetisierung seines Volkes und an die Rückkehr nach Europa
über die Kultur. Gleichzeitig erkennt er, dass sein Volk mit dem errungenen
Fundamentalwert nicht umzugehen weiß: Die
größte Krankheit in Rumänien ist wahrscheinlich die, dass die Rumänen nicht
wussten, was sie mit der Freiheit anfangen sollten, sagte Dinescu in einem
Interview vom 13. Mai 1991 mit der deutschen tageszeitung aus Berlin.
Dinescus
Einschätzung der allgemeinen politischen Situation des Landes nach der
Machtübernahme der Wendehälse für sieben weitere Jahre ist von Desillusion
geprägt. Depression ersetzt die einstige Euphorie. An die Macht sind die Professionellen der Macht gekommen, das heißt die
zweite Schicht des Apparates. (…) Die jetzt an der Macht sind, sind Söhne
ehemaliger Parteifunktionäre.
Vieles
blieb beim Alten. Während die rumänischen Dissidenten - im krassen Gegensatz zu
Polen und der Tschechoslowakei, wo Walesa und Havel die moralische Erneuerung
und Neuordnung ihrer Staaten selbst in die Hand nahmen - , von den Zentren der
Macht verdrängt wurden, kehrten alte Verhaltensmuster des kaum erst besiegt geglaubten
Sicherheitsdienstes, der, nach Dinescu mächtiger scheint als zuvor, wieder zum
Vorschein: anonyme Briefe,
Beschimpfungen, Morddrohungen. Es besteht die Gefahr, dass der
Sicherheitsdienst eines Tages seine alte Macht wieder innehaben wird.
Das sind
erschreckende Prognosen für ein Land, das inzwischen in die Europäische Union
aufgenommen worden ist. Heute, im Frühling 2008, ist es kein geringerer als
Präsident Băsescu, der das Wiederaufziehen restaurativer Tendenzen befürchtet -
sprich den Willen zur Macht zurück von 120 Abgeordneten im Rumänischen
Parlament, die noch in irgend einer Form mit der früheren Securitate zusammenhängen.
Dinescu,
den andere Kollegen, Leute wie Richard
Wagner aus Lowrin im Banat, die nichts für die Erlangung der Freiheit in Rumänien getan haben, eben
weil sie keine Dissidenten sein wollten,
nur staatsloyale Kritiker, sic!, einen Politclown nennen, nimmt auch nach der Revolution kein Blatt vor
den Mund, wenn es darum geht, Fakten und Wahrheiten anzusprechen. Und er schont
dabei die eigene Zunft nicht.
Auf das
Datum der Befreiung bezogen sagt er: Bis
dahin glaubte ich an eine Art Dissidententum allein in der Kultur. Das war eine
Illusion. Viele sehr bekannte rumänische Schriftsteller haben die Rolle eines
Vogel Strauß gespielt, haben sich in Metaphern und Bildern versteckt und dabei
geglaubt, dass sie Dissidenz betreiben. Zu den Speichelleckern und Verfassern
von panegyrischen Versen von gestern vom Schlage eine Păunescu und Tudor sagt
er: Die meisten ehemaligen Hofdichter von
Ceauşescu sind jetzt Besitzer einer Zeitung oder einer Zeitschrift. Die
ehemaligen Parteifunktionäre, die Millionen unter Ceauşescu verdient haben,
investieren diese Gelder in Zeitungen. (…) Tragisch und zugleich lächerlich ist
auch die Tatsache, dass diese kleinen Goebbels’ unter Ceauşescu nach vier, fünf
Monaten der Angst wieder aktiv sind. Sie beherrschen wahrscheinlich die Hälfte
der rumänischen Presse.
Ungeachtet
seines euphorischen Überschwangs, das den Poeten in Dinescu ausmacht, charakterisiert
und diagnostiziert gerade dieser Dichter - von Landsmann Eugen Ionesco für den
Nobelpreis vorgeschlagen - die Phänomene seines Heimatlandes in ihrer
Wesenhaftigkeit und Substanz, während andere Leute der systemloyalen
Schriftstellerin Herta Müller für das Anerkennen einer totalitären Struktur den
gleichen Preis zukommen lassen wollen. Wenn
der Kopf in den Wolken wandelt, dann erscheint auch das Wolkenkuckucksheim als
Ideal - wie bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich für ihren Faut Pas noch
bei keinem Betroffenen entschuldigt hat.
Da
Dinescu aber mit einem hellen Kopf und einem regen Geist versehen, mitten im
Geschehen war, wusste er genau worauf es ankam.
In einem
Interview mit der Augsburger Allgemeinen
aus dem Jahr 1990 stellt Dinescu deshalb nüchtern fest: Man muss zugeben: in Rumänien gab es leider eine sehr lange Pause in
Sachen Demokratie: 45 Jahre oder mehr sind eine unglaublich lange Zeit. Bei uns
sind die demokratischen Instinkte, der Spürsinn für echte Demokratie verschwunden.
Dann kommt er auf die Freiheit zu
sprechen, indem er betont: Viele Leute
glauben, dass die Freiheit dies bedeutet - auf die Straßen zu gehen und Steine
in die Fenster des Parlaments zu werfen. Die Freiheit ist eine Sache, die
gelernt werden soll, man erzieht im Sinne der Freiheit, man erlebt sie
allmählich in der Tiefe des menschlichen Wesens. Die Pause in Sachen Freiheit
war zu groß. Es ist schon bewiesen: Drei Monate sind keine Zeit, um die
Freiheit wieder zu entdecken. Spätere Würdenträger der Bundesrepublik
warfen in ihrer pubertären Phase auch mit Steinen, ohne zu ahnen, wessen Haupt
sie treffen könnten, doch nur aus Sehnsucht nach Freiheit! Oder? Honi soit qui
mal y pense!
Dinescus
düstere Bilanz entspringt der Realität des politischen Geschehens nach der
Revolution. Als die aufgebrachten Massen protestierender Studenten plötzlich zu
viel Demokratie wagen wollten, machte der Wendehals Iliescu schnell von seiner Freiheit Gebrauch, um herbei gekarrte,
mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnete Minenarbeiter auf die rebellierenden
Jugendlichen zu hetzen. Wie war das mit dem Freiheitsbegriff bei Elena und
Jaspers? Es darf keine Freiheit geben zur Vernichtung von Freiheit! Iliescus
Knüppeltaktik bedeutete einen eklatanten Rückfall in diktatorische Zeiten, ein
untilgbarer Schandfleck für die künftige Zeit seiner siebenjährigen Regierung -
und er verwies auf das wahre Gesicht der Ceauşescu-Nachfolger! Der Schah in
Schah und Ajatollah Chomeini hatten es einst vorgemacht - und Margret Thatcher
in Nordirland!
Diese
Jahre der eingeschränkten und falsch verstandenen Freiheiten waren für den
demokratischen Umformungsprozess der Gesellschaft nahezu ganz verloren. Der
Umgang mit der Freiheit, das erkannte
der Dichter klarsichtig, will gelernt sein - auch von den Mächtigen, bevor eine
Kultur der Freiheit entsteht, aus der
mehr werden kann.
Dank des
beherzten Eintretens vieler Mutiger, denen Dinescu die Zunge lieh, und aufgrund
einer gewissen Lernfähigkeit der Mächtigen im Land, hat sich in der
Zwischenzeit einiges zum Positiven entwickelt bis hin zur Verurteilung, ja Verdammung
des kommunistischen Systems als ein System des Verbrechens. Doch manches andere
braucht noch Zeit, viel Zeit.
Demokratische
Strukturen, das zeigt auch das Beispiel der ehemaligen DDR und der
Nachfolgestaaten der Sowjetunion, entstehen nicht über Nacht. Sie müssen erst
kultiviert werden über die Saat der Freiheit!
Seit 1989
verlor das rumänische Exil fast seine Berechtigung - der Weg der Reformen muss
im Land selbst gegangen werden, gestützt von Außenperspektiven wie dieser. Dann
kann daraus ein Erfolg werden: für Rumänien und für Europa.
Die Proklamation von Temeschburg :
Paradigma demokratischer Neuorientierung -
verfasst von freien Bürgern einer freien Stadt
Als ich
Temeschburg im Herbst 1979 für nunmehr drei Jahrzehnte verließ, war die Alltagswelt
noch weitgehend in Ordnung. So erschien sie mir jedenfalls noch in der knappen
Zeitspanne nach der Entlassung aus dem Gefängnis bis zur Ausreise. Die Menschen
hatten immerhin noch genug zu essen.
Doch
bereits zwei Jahre danach verfiel die ökonomische Struktur des Landes dramatisch.
In dem einst wohlhabenden Temeschburg, im Eldorado vieler Rumänen aus dem
Norden, sollen Menschen auf einer öffentlichen Kundgebung erstmals nach Brot
gerufen haben. Statt der altvertrauten Parole Ceauşescu –PCR riefen die Darbenden plötzlich: Ceauşescu - Păine.
Jeder
auch noch so gefürchtete Gewaltherrscher im antiken Rom wusste, dass ein Ende
seiner Macht bald bevorstand, wenn die Getreidespeicher leerer wurden. War kein
Korn mehr vorhanden, dann versagten selbst die kurzweiligsten Spiele!
Ceauşescu, ein Berufsrevolutionär mit bescheidener Bildung, wusste davon nichts.
Statt sein Volk mit Brot zu versorgen und mit ausreichend Butter darauf, mutete
er den Bürgern weiter zu, mit leeren Magen zu schuften und hungernd und verzichtend
die vielfach entwickelte Gesellschaft
der Zukunft aufzubauen - mit ihrem Homo
novus, dem neuen Menschen des Sozialismus, der in der schon anbrechenden Gesellschaft des Lichts nur noch von
Illusionen lebt!
War
diese Haltung weniger zynisch als einst jene von Marie Antoinette? Jene verlor
bekanntlich den Kopf! Aber auch davon hatte Ceauşescu wohl nichts gehört. Seine
politische Instinktlosigkeit, die mehr und mehr alle Realitäten verkannte,
musste zum Scheitern führen.
Nach den
spontanen Kundgebungen mit dem Ruf nach Nahrung und existentieller
Grundversorgung folgten bald weitere gezielte Protestaktionen mit ähnlichen
Forderungen, Studentenproteste, Erhebungen, gewaltsame Bergarbeiterstreiks wie
jene in Motru, und schließlich der Aufruhr in den Reihen der Arbeiter, die plötzlich
Tausende mobilisieren konnten. Endpunkt der immer gewaltsameren Massenproteste
war die Revolution von Temeschburg!
Es war
das zentrale Ereignis, das letztendlich zum Sturz des Diktators führen sollte.
Wohin ging die Reise nach 1989? Welchen Weg sollte die rumänische Gesellschaft
nach dem makabren Ende Ceauşescus, das von den neuen Machthabern um Iliescu
schon aus Selbstschutzgründen rasch herbeigeführt worden war, beschreiten?
Das Neue
musste eine radikale Abkehr vom Alten bedeuten, eine radikale Demokratisierung
der Gesellschaft von Anfang an - und keine langwierige Transformation, wie sie
dann tatsächlich von Staatschef Iliescu sieben Jahre hindurch betrieben werden
sollte.
Alle
Grundsätze der künftigen Entwicklung Rumäniens zur Demokratie und in die europäische
Integration wurden in der Erklärung von
Temeschburg formuliert. Sie ist das Paradigma
des Demokratisierungsprozesses des Landes und seiner Konversion von der
kommunistischen Diktatur zu einer parlamentarisch-demokratischen Republik
westlichen Zuschnitts.
Als ich
im Frühling 1990 als ferner Beobachter der Entwicklungen merkte, dass die neuen
Machthaber in Bukarest unter dem uns Temeschburgern sattsam vertrauten Iliescu
das Rad der Demokratisierung wieder anhalten wollten, den Prozess des Umbruchs
für ihre eigenen Zwecke zu nutzen gedachten und dabei die Ideen
avantgardistischer Demokraten wieder in den Hintergrund gedrängt werden sollten,
machte ich mich daran, die Intentionen der Temeschburger Visionäre zumindest in
Deutschland bekannt zu machen.
Die
Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung druckten meine Stellungnahme
als Leserbrief in der Ausgabe vom 9. Mai 1990 ab. Dort schrieb ich folgendes: „Mitte März sendete der immer noch staatlich
gelenkte Sender Radio Bukarest eine verstümmelte und abgeänderte Fassung der „Erklärung
von Temeschburg“. Der authentische Text dieses inzwischen in den Westen
gelangten Aufrufs gibt zu erkennen, weshalb manipuliert werden musste. Diese
„Proklamation“, von unmittelbar an der Revolution beteiligten Schriftstellern,
Journalisten und Studenten ausgearbeitet und von zahlreichen Bürgerverbänden
gutgeheißen, richtet sich primär an die nationale Öffentlichkeit, interessiert,
die ideellen Zielsetzungen der - noch nicht abgeschlossenen - Revolution
programmatisch zu verkünden und Wege der politischen und ökonomischen Erneuerung
zu konkretisieren. Einige Grundzüge dieses wichtigen Zeitdokuments das - wie
kaum ein anderes - die politische Stimmungslage in Rumänien widerspiegelt,
mögen die demokratische Gesinnung der stark bedrängten Opposition verdeutlichen.
Die Autoren, die sich nunmehr als freie Bürger
einer freien Stadt verstehen, weisen in der Erklärung darauf hin, dass die
Revolution von Temeschburg (Temeswar) nicht nur antidiktatorisch - also gegen
Ceauşescu - sondern im Einklang mit den Aspirationen aller Völker Osteuropas
genuin „ antikommunistisch“ ausgerichtet war. Sie wurde, wie weiter ausgeführt
wird, von allen sozialen Volksschichten und von den dort lebenden ethnischen Minderheiten
„Ungarn, Deutsche, Serben“) getragen. Die Idee eines „politischen Pluralismus“ stand
von Anfang an im Vordergrund. „Wir sind überzeugt“, heißt es, „dass eine europäische
Demokratie ohne starke Parteien nicht bestehen kann. Alle Parteien, außer den
links- und den rechtsextremen, haben in Temeschburg eine Existenzberechtigung.
Jede Form von Chauvinismus wird abgelehnt.
Dann erfolgt die moralische Abrechnung mit dem
immer noch bestehenden Machtsystem. Die Kommunistische Partei Rumäniens habe
sich durch den von ihr zu verantwortenden „Genozid“ selbst aus der Gesellschaft
ausgeschlossen. Deshalb könne sie unter keinen Umständen und auch in keiner
Form der Wiedergeburt geduldet werden. Genauso konsequent werden auch die
jetzigen Machthaber, deren späte Abtrünnigkeit nicht akzeptiert wird, als
Führungskräfte abgelehnt. Kommunisten und Mitgliedern der „Securitate“ sollte
innerhalb der nächsten drei Legislaturperioden jede politische Aktivität, vor
allem aber das Anstreben des Präsidentenamtes, untersagt werden. Der künftige
Präsident des Landes müsse vielmehr durch seine Persönlichkeit die Überwindung
des Kommunismus symbolisieren.
Mehrere Abschnitte der Proklamation sind
wirtschaftlichen Fragen gewidmet. Es wird darauf hingewiesen, dass die
Revolution nicht materieller Natur war. Gleichzeitig warnen die Verfasser vor
verfrühten Wohlstandserwartungen und einer daraus resultierenden
wirtschaftlichen Instabilität. Das Anheben des allgemeinen
Zivilisationsniveaus, etwa der Ausbau des Gesundheitswesens, sollte absolute
Priorität genießen. Prinzipiell setzen die Autoren auf ökonomischen Pluralismus.
Privatisierung, Dezentralisierung der Wirtschaft und Konvertierbarkeit der
Währung sind weitere Schlagworte des Programms. Der Aufruf, alle Exil-Rumänen
mögen in ihre Heimat zurückkehren, beschließt das Dokument.
Als
gebürtiger Temeschburger und als ehemaliger Dissident sah ich es als meine
Pflicht an, sowohl die Intentionen der Proklamation, die in ihrem
idealistischen Ansatz und gemessen an der tatsächlichen Realität partiell wie
politische Utopie anmuten, als auch die rückwärtsgewandten Prozesse im Land bekannt
zu machen.
Rumäniens schwierige Rückkehr nach Europa - zum Status quo heute
Doch der
Weg zur Demokratie sollte sich sehr langsam gestalten. Präsident Constantinescu,
der mehr Demokratie wagen wollte und deshalb viele Voraussetzungen schuf, die
in die richtige Richtung wiesen, resignierte bald. Und selbst jetzt im Jahr
2008, nach Traian Băsescus Verurteilung und Verdammung des Kommunismus in
Rahmen des Reports, ist das neue EU-Land immer noch meilenweit von der Demokratie
entfernt.
Einiges
wurde inzwischen zwar auf den Weg gebracht. Doch die meisten Zielsetzungen der Proklamation von Temeschburg, die auch
heute noch eine Meßlatte der Entwicklungen darstellt, wurden noch nicht
erreicht. Der Status quo ante besteht immer noch. Viele Securitate-Kommunisten
sitzen, wie in Russland teils als Oligarchen getarnt, immer noch an den Hebeln
der Macht und bestimmen die Richtlinien der Politik aus dem grauen Hintergrund
heraus. Und Rumänien, das von außen als ein monolithischer Block in Bewegung
wahrgenommen wird, ist in Wirklichkeit ein zerrissenes Land. Es ist ein Staat,
dessen Nation scharf gespalten ist; nicht nur zwischen neureich und arm;
sondern aufgeteilt in ein fortschrittlich-demokratisches Lager, zu dem, neben
der Schicht der Intellektuellen, die Bevölkerung aus den urbanen Zentren
gerechnet werden kann, und einer archaisch skeptischen, eher rückwärtsgewandten
Landbevölkerung, die intuitiv und ohnmächtig zur Linken strebt, weil sie sich
bei den Repräsentanten der Alten Ordnung besser aufgehoben fühlt als bei den
Demokraten, die vom Kleinen Mann oft nicht verstanden werden.
Das
rechte und ultrarechte Lager der Hetzer und Demagogen, von welchem der Westen
kaum Kenntnis hat, dient den kommunistischen Wendehälsen um Iliescu als
Tarnschild, um so vom eigenen Machtstreben abzulenken. Demagogie und
Verleumdungen sind an der Tagesordnung in der Politik - und Prinzipien haben es
schwer, sich durchzusetzen.
Dissidenten-Schicksale
nach dem Umschwung
Das
Schöne am Idealismus ist die Tatsache, dass Menschen, die von idealistischen
Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit,
Wahrheit, Schönheit und Humanität durchdrungen sind, ein Leben lang Idealisten
bleiben - auch wenn die Zeiten sich ändern.
Mircea
Dinescu, Ana Blandiana, Doina Cornea und viele andere Bürgerrechtler und Dissidenten
blieben bis heute ihren Überzeugungen treu und fahren auch heute noch fort, an
der Umsetzung demokratischer Strukturen in Rumänien zu arbeiten. Ana Blandiana,
heute europaweit eine anerkannte und vielgefragte Persönlichkeit des
kulturellen wie politischen Lebens, ließ sich von den politischen
Vereinahmungsversuchen nicht korrumpieren. Sie macht weiter und wirkt von der
Gedenkstätte Sighet aus - nicht anders als Doina Cornea, die ebenfalls an ihrem
aufklärerischen Weg festhält.
Auch
Mircea Dinescu hat die Zeichen der Zeit erkannt. Er hat sich auf die kapitalistischen
Umwandlungsprozesse eingestellt, indem er ein großes Gut erwarb und sich
dadurch die wirtschaftliche Unabhängigkeit - und somit die geistige Freiheit sicherte. Heute ist er noch
genau so mutig wie damals und setzt sich, ungeachtet mancher Desillusion und
Anfeindung, für die Offenlegung der Geheimdienstakten und die Rehabilitierung
der Opfer ein. Sein kritisches Wort hat immer noch Gewicht in der rumänischen
Gesellschaft, obwohl manche Kräfte daran interessiert sind, ihn weiter zu diffamieren
und zu diskreditieren, um ihn mürbe zu machen und ihn zum Rückzug aus der
moralischen Verantwortung zu bewegen.
Er ist
und bleibt ein gesellschaftskritischer Zeitgenosse mit Interesse an der Politik,
obwohl ihn seine Landsleute bei der ersten annähernd demokratischen Wahl im
Jahr 1990 weder zum Parlamentarier wählten, noch zum Minister machten. Polen
und Tschechen hatten anders reagiert, als sie den Symbolfiguren der Freiheit
die Geschicke ihren Staaten anvertrauten. Dinescu nahm es lässig hin und
aktivierte dafür erfolgreich und zum Verdruss vieler belasteter Ex-Securitate-
und Parteibonzen in der Gauck-Behörde Rumäniens CNSAS. Selbst heute noch, nach
Jahren weiterer Enttäuschungen auf dem Weg des Landes zu mehr Demokratie und Freiheit, bekennt Dinescu offen, was er
denkt, gerade in der öffentlichen Auseinandersetzung mit alten Demagogen aus
der Zeit der Diktatur, wenn auch sarkastischer und zynischer als einst.
Um den
Ceauşescu-Lobhudlern von gestern, die sich alle eigene Presseorgane zulegten,
um ihre Demagogie in eigener Sache möglichst effizient entfalten zu können,
sprich: die fortgesetzte Volksverdummung mit anderen Mitteln, nicht ganz das
Feld zu überlassen, gründete Dinescu - vom ehemaligen Präsidenten Iliescu als Gutsbesitzer diffamiert - eigene Blätter
und greift darin gezielt in die politische Diskussion ein. Mit den mutigen
Dichterinnen und Schriftstellerinnen Blandiana und Cornea bleibt er auch jetzt,
im Jahr 2008, nach dem offiziellen Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union,
ein Gewissen seiner Nation.
Vergangenheitsaufarbeitung,
Vergangenheitsbewältigung und die obskure CNSAS
Nicht
zuletzt dank seiner Glaubwürdigkeit und moralischen Integrität wurde Mircea
Dinescu in jenen CNSAS-Ausschuß gewählt, der der deutschen Gauck-Behörde
entspricht, einer Einrichtung, die das Offenlegen sowie das wissenschaftliche
Auswerten der Geheimdienstdossiers der ehemaligen Securitate anstrebt. Der
bürgerliche Präsident Constantinescu hatte die gesetzlichen Voraussetzungen zur
Veröffentlichung der Akten geschaffen. Doch das, was in der rumänischen Realität
abläuft, ist mehr als unbefriedigend. Anders als in Deutschland, wo das Parlament
die Arbeit der Behörde überwacht, wurde im heutigen Rumänien, das nunmehr
endgültig nach Europa strebt, wieder einmal der Bock zum Gärtner gemacht.
Ein Wolf
bewacht die Senne. Die
Nachfolgeorganisation der Securitate, der Sicherheitsdienst SRI, bestimmt nach
wie vor, wer Akteneinsicht erhält und wer nicht. Das Entscheidungskriterium ist
noch immer ein vorgegaukeltes nationales Sicherheitsinteresse - eine Kategorie,
die der neue Sicherheitsdienst selbst definiert. Hinzu kommt ein
langwieriger bürokratischer Prozess schikanöser Antragstellung verbunden mit
einem Abwarten, das sich ein Jahr hinziehen kann.
Wie soll
so ein ehemaliger Dissident, der seit Jahrzehnten im Westen lebt, an seine Akte
herankommen? Das hat System - schließlich ist es immer noch der Wolf der
bestimmt, was dem Wohl der Schafe dienlich ist.
Doina
Cornea, eine Bürgerrechtlerin, die auch nach der Revolution von den
kommunistischen Wendehälsen als Vaterlandsverkäuferin diffamiert wurde, fordert
alle Rumänen auf, ihre eigenen Dossiers anzufordern und zu studieren, um zu
erfahren, wie und von wem sie während der Zeit der Diktatur bespitzelt wurden.
Sie erkennt darin ein gutes Mittel zur Vergangenheitsbewältigung. Doch dieses
Phänomen wenig erbauliche ist wenig gefragt. Weite Kreise unterschiedlicher Ausrichtung
sträuben sich dagegen, unfähig die eigene Feigheit und das eigene Versagen
anzuerkennen.
Massiver
Widerstand kommt von der äußersten Rechten, von Antisemiten wie Tudor, der
Dinescu massiv bekämpft und ihn um jeden Preis aus dem Aktenoffenlegungsausschuss
entfernen will. Noch in jüngster Zeit, im Jahr 2006, wurde eine
Verleumdungskampagne gegen den Demokraten Dinescu losgetreten, in welcher der
Volksverhetzer Vadim Tudor den Dichter wüst beschimpft und ihm allerlei
Machenschaften unterstellt. Kann sich Rumänien, ein Land, das für immer nach
Europa strebt, ein Land, das sich zu den Werten des abendländisches Humanismus
nach der Aufklärung, nach der großen Revolution und nach den totalitären
Systemen des 20. Jahrhunderts bekennt, solche Demagogen leisten?
Das
fragte ich überzeugte rumänische Demokraten, die schon lange im Westen leben
und die Entwicklungen in ihrer Heimat täglich kritisch beobachten. Eine Antwort
darauf bestand in der lapidaren Feststellung: Frankreich, die Leitnation der
Demokratie, hat einen Le Pen! Dieser rechtfertigende Vergleich hinkt etwas - in
Frankreich ist die demokratische Struktur gefestigt. Und Frankreich kommt nicht
aus einer nahezu fünfzigjährigen Diktatur, die alle demokratischen Werte
zerstört hat.
Trotzdem: Der freiheitliche Westen selbst hat -
für alle im Osten gut sichtbar also ein falsches Paradigma vorgegeben, indem
Rechtsradikale salonfähig gemacht und toleriert wurden. So etwas kann schnell
ins Auge gehen und fatale Folgen haben.
Freiheit und Demokratie, das zeigt ein Blick in die
Geschichte der Weimarer Republik mit ihrer vielleicht demokratischsten
Verfassung der Welt, scheitern manchmal an der Verwischung der Grenze zwischen
Moral und Unmoral, zwischen tatsächlicher, positiver Freiheit und falsch verstandener Freiheit. So konnte der menschenverachtende Nationalsozialismus gedeihen,
der Faschismus und das Pendant zu diesen, der weltweit verbreitete Stalinismus.
Der Preis von Freiheit und Demokratie
muss gut ausgelotet sein.
Vergangenheitsbewältigung
- das zeigt ein Blick in die Aufarbeitung der deutschen Geschichte seit 1945 ebenso
wie der Umgang der Franzosen mit der Zeit des Vichy-Regimes - ist eine
langwierige und schwierige Angelegenheit, die viele Überraschungen birgt.
Allein während der Ausarbeitung dieses Werkes, wo die unterschiedlichsten
Quellen immer wieder und wieder auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden
mussten, geriet manche Gewissheit, an die man fast ein Leben lang geglaubt
hatte, ins Wanken. So genannte Wahrheiten verschoben und verkehrten sich. Viele
Ungewissheiten und Fragen blieben zurück, vermischt mit vielfältigen
Enttäuschungen und Desillusionen.
Der
streitbare Paul Goma, in der langen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus
rumänischer Prägung letztendlich an die Wand gedrängt und in die falsche
Diskussion abgelenkt, ist heute ziemlich isoliert. Er streitet sich mit jedermann, sagte mir ein überzeugter Demokrat,
der Goma lange als Publizist unterstützt hatte. Und Ionel Cană, der
hellsichtige wie mutige Gründer der ersten freien Gewerkschaftsbewegung in
Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, lässt sich instrumentalisieren, indem er
heute unkritisch selbst die rechte Presse als Plattform nutzt, um seinen Frust
und seine Enttäuschung über die eigene Nichtbeachtung durch die Mächtigen im
Land kundzutun.
Sieben
Jahre lang haben die Kommunisten um Iliescu die Dissidenten von einst verhöhnt
und verlacht. Kein Wunder, dass diese verbittert in den Zynismus flüchten und
dabei Fehler machen. Die in jüngster Zeit in Ziua erschienene Abrechnung Canăs mit dem so genannten Tismăneanu-Bericht spricht Bände. Dieser
sei Makulatur, heißt es pointiert. Dabei legt ein gerissener Journalist der
Rechten dem Dissidenten von gestern die Worte in den Mund. Cană fühlt sich und
die von ihm initiierte freie Gewerkschaftsbewegung SLOMR zwar mit Recht
verkannt und ignoriert, nur er durchschaut die Manipulation, die ihn von
schmaler Warte aus ein wertvolles Mammutwerk verdammen lässt, im Grunde nicht.
Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der SLOMR-Materie, die noch durch viele
Mythen, Ungereimtheiten und falsche Zahlen belastet ist, wird sicher bald mehr
Klarheit bringen. Nicht zuletzt soll auch dieses Werk mit den flankierenden
Interviews und Veröffentlichungen zur Thematik dabei hilfreich sein.
Vom Sturz der Ikonen - Fakten
oder Desinformation und Manipulation?
Weniger
erfreulich aus der Sicht des Autors war die Tatsache, dass im Verlauf der Ausarbeitung
des Manuskripts scheinbar konstante Ikonen der Freiheit und Träger der großen Idee ins Wanken gerieten und taumelnd
vom Podest stürzten - auch dies als Folge der Aufklärungsarbeit der CNSAS, der
in bestimmten Fällen vertraut werden muss, obwohl eine Beweisfabrikation durch
die Securitate und ihre Nachfolger nie ganz ausgeschlossen werden kann. Eine
aus alter Solidarität der Dissidenten untereinander begründete Skepsis ist nach
wie vor angesagt, wenn es um belastende Aussagen gegen ehemalige Opponenten und
Freiheitskämpfer geht. Doch die massive Enttäuschung wirkt stärker und ist
nicht aus der Welt zu schaffen.
Ion
Caraion, der den regimekritischen Schriftstellerkollegen Nicolae Steinhardt an
die Securitate verraten haben soll, fiel partiell vom Sockel. Hatte er als
vollendetes Chamäleon und hinter einer perfekten Maske verborgen auch mich
getäuscht? Ich kann es nicht glauben; doch andere ehemalige Bürgerrechtler und
kritische Journalisten sind anderer Meinung. Und, neben Caraion, gut getarnt
und virtuos agierend, Mihnea Berindei, mein Gewährsmann von der Liga für Menschenrechte
in Paris? Er soll bereits 1968, Jahre vor der als Flucht getarnten Ausreise in
den Westen, von der Securitate angeworben worden sein, besagen CNSAS-Akten, die
heute über das rechte Forum Asociatia
Civic Media im Internet verbreitet werden. Die Plattform wurde angeblich
von den gleichen Leuten gegründet, die Cană und andere gezielt für ihre Zwecke
missbrauchten. Kann, darf und muss man solchen Aussagen glauben?
Oder
sind es nur Vehikel der Desinformation, gestreute Verleumdungen boshafter Art,
die Berindei genauso zu diskreditieren suchen wie Vladimir Tismăneanu, den
Koordinator der Kommission, die Person, die ihn als Experten berufen hat? Nachdem in Berlin die Mauer gefallen war,
versuchten gut getarnte Mitarbeiter der Staatsicherheit wie jener vermeintliche
Sozialdemokrat Böhme sich an die Spitze der demokratischen Erneuerung zu
setzen, um so das Heft des Handels in der Hand zu behalten, nicht zuletzt zum
Schutz ihrer belasteten Kollegen aus dem Geheimdienst der DDR. Sie agierten
virtuos und dreist, bis sie endlich enttarnt wurden. Weshalb sollte es in
Rumänien anders sein?
Mihnea
Berindei, der in Paris bei der Liga für Menschenrechte an der Quelle saß, dem
die exilierten Menschenrechtler und Dissidenten blind vertrauten, obwohl er der
Sohn eines linientreuen Karriere-Historikers war, soll es seinen konspirativen
Genossen aus dem DDR-Geheimdienst gleichgetan haben, indem er als Gründungsmitglied
die Gruppe für den Sozialen Dialog GDS ins Leben rief - so der dunkle Vorwurf
aus dem rechten Lager der Asociatia Civic
Media. Erst spät, sehr spät, als er als Mitglied der Tismăneanu-Kommission
noch mehr in den Blick der Öffentlichkeit rückte, sei er dann von der CNSAS
durchschaut und in seinem öffentlichen wie verborgenen Wirken gestoppt worden.
Vermutlich
und höchstwahrscheinlich handelt es sich hierbei jedoch nur um verleumderische
Unterstellungen, die heute in der politischen Landschaft Rumäniens alltäglich
sind. Verantwortlich dafür sind Experten der Desinformation, alte Mitarbeiter
der Securitate, die mit ihrem demagogischen Führer Vadim Tudor im rechten Lager
Zuflucht fanden und von dort aus agieren. Nur kann sich das auch heute noch
exilierte Opfer schlecht wehren.
Neben
der Bürgerlichen Allianz, der ehemals exilierte Regimegegner angehören wie
Victor Frunză, ein Dissident, der im dänischen Exil überlebte, bevor er nach
der Revolution wieder heimkehrte, ist es auch heute noch vor allen die GDS, Grup pentru dialog social, die sich als
lose Bürgervereinigung für den notwendigen Demokratisierungsprozess in Rumänien
einsetzt.
Berindei
gehörte auch zu ihren Gründungsmitgliedern - genauso wie Sorin Antohi, ein
kritischer Essayist und Schriftsteller aus Iaşi, zeitweise Mitglied der Aufarbeitungskommission,
der sich letztendlich als wirklicher Denunziant
heraus kristallisierte. Antohi stellte
sich selbst der Öffentlichkeit und berichtete ausführlich über seine Verstrickungen
und Denunziationen seit der Schulzeit. Sein Straucheln belastete sicher
auch Berindei und die von Präsident Băsescu eingesetzte Kommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien.
Maßstab
des Geschichtsaufarbeitungsprozesses ist nach wie vor die Proklamation von Temeschburg, deren Forderungen ich über den
FAZ-Abdruck hinaus auch sonst gleich nach ihrer Verkündung im deutschsprachigen
Westen bekannt zu machen suchte. Die Intellektuellen aus meiner Geburtsstadt Temeschburg
nehmen auch heute noch eine Vorreiterstellung ein und fordern, weitgehend über
die GDS und anderen Gruppierungen, in nationalen und internationalen Appellen
weiterhin die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und den weiteren
Demokratisierungsprozess des Landes im Hinblick auf eine vollwertige
EU-Integration. Wer ihre Appelle ausführlich studiert, nicht zuletzt den
jüngsten, der auf die moralische Solidarität der Europäischen Union hofft, wird
feststellen, dass noch viel an Aufarbeitung zu leisten ist.
Das
Wanken und partielle Stürzen mancher Ikone, die ich als Felsen in der Brandung
angesehen hatte, berührte mich bis zuletzt und verwies auf das flächendeckende
Vereinnahmungsnetz des Repressionsapparates. Wer war denn überhaupt noch
integer - und wer ist es noch? Hatte die Securitate, die selbst die Katholische
Kirche infiltrierte, letztendlich alle korrumpiert und alles mit ihrem
Spinnennetz überzogen? Welche Autorität blieb noch übrig - und wer wird als
nächster enttarnt? Wie gut, dass ich bereits als Zwanzigjähriger ziehen durfte!
Die Vergangenheitsbewältigung ist gnadenlos - und
manch scheinbar hehre Geister holt die eigene Vergangenheit ein, vor allem
jene, die auf irgendeine Weise mit der Macht verstrickt waren. Unschuldig und
unbedeutend bleiben jene, die außerhalb standen, bis heute.
Eine
wahrhaftige Vergangenheitsbewältigung ist aber auch heilsam. Erst nach dem
abgeschlossenen Katharsis-Prozess wird aus Asche neues Leben entstehen. Rumänien
setzt heute auf den Pluralismus der Meinungen, die auf der Suche nach Wahrheit
im Widerstreit liegen. Das ist gut so. Doch Rumänien braucht auf seinem Weg in
die Zukunft zwar diese Kultur der Vielfalt und den demokratischen Pluralismus
auch im Politischen, der 1945 nach der Machtübernahmen einer kleinen
kommunistischen Clique für 45 Jahre abgewürgt worden war - aber es benötigt
dringend demokratische Verhaltensweisen, die von der Würde des Menschen ausgehen
und getragen werden.
Ein neuer Anfang - Rumäniens Ankunft in Europa? Oder: von
der Verurteilung des Kommunismus als
ungesetzlicher und verbrecherischer
Weltanschauung
Siebzehn
Jahre nach dem Sturz des Diktators, am 18. Dezember 2006, trat Präsident Traian
Băsescu vor das nationale Parlament und gab eine Erklärung ab, die als historisch
eingestuft werden kann und die für die demokratische Entwicklung seines Landes
von besonderer Tragweite sein sollte.
In
seiner Erklärung, die im Westen sicher mit Wohlwollen aufgenommen wurde, im
eigenen Land jedoch unterschiedlichste Proteste der verschiedensten politischen
Kräfte hervorrief, brandmarkte Präsident Băsescu das halbe Jahrhundert
kommunistischer Herrschaft in Rumänien als ungesetzlich
und verbrecherisch, indem er sich auf
einen wissenschaftlichen Report
berief, den eine Expertengruppe unter
dem Vorsitz des US-Politologen rumänischer Herkunft Vlamidir Tismăneanu
innerhalb eines halben Jahres erarbeitet hatte.
Der
Präsident des neuen EU-Mitglieds Rumänien schloss sich in seiner historischen
Wertung ganz den Erkenntnissen der von ihm selbst berufenen Präsidentenkommission zur Analyse der
kommunistischen Diktatur Rumäniens an, deren Quintessenz das totalitäre
Phänomen des Kommunismus auf die Begriffe kriminell
und illegitim reduziert. Das entspricht einer spektakulären Verurteilung
der kommunistischen Ideologie, wie es sie in Osteuropa in dieser radikalen Form
noch nirgendwo gegeben hat.
Der Akt
Băsescus, einen Schlussstrich unter die Zeit des Stalinismus und des real
existierenden Sozialismus, der in den letzten Jahren wieder zum Spätstalinismus
verkommen war, zu setzen, kann als eine symbolträchtige Good will-Aktion, als wohl gemeinte Geste eines konzilianten
Staatsoberhaupts an die Adresse der Westeuropäer und der Nordamerikaner
gewertet werden, die beeindrucken sollte. Aus ihrer unmissverständlichen
Signalwirkung sollte zu erkennen sein, dass die Rumänen als Volk ein für alle
Mal mit den totalitären Systemen Schluss gemacht hätten - und unwiderruflich in
Europa angekommen waren. Es war ein Gestus, der aufhorchen ließ, ein deutliches
Signal, Rumänien sei zu einem neuen Anfang bereit.
Doch kam
das Zeichen nicht recht spät, ganze siebzehn Jahre nach der Verjagung des
Tyrannen? Polen, Tschechen und andere ehemalige Ostblockstaaten hatten viel
schneller reagiert und antikommunistische Persönlichkeiten mit der Staatsführung
beauftragt. Nicht aber die Rumänen! Dort gingen die Uhren noch fast zwei
Jahrzehnte anders. Und jetzt, wo der Paukenschlag kam, musste man sich fragen:
Trommelten da die richtigen Leute, überzeugte Demokraten und Europäer oder doch
nur Demagogen des Augenblicks? Und was wurde aus der Verkündigung? Die
Botschaft Präsident Băsescus wurde zwar gehört - doch geglaubt wurde sie nicht
ganz, zumindest nicht im Land selbst, wo sie von den Vielen nicht verstanden
und wo sie mächtigeren Interessensgruppen in das Konzept pfuschte. Vor allem
jene Kräfte der Alten Ordnung, jene Securitate-Kommunisten, die inzwischen
Rumänien unter sich aufgeteilt hatten und die auch heute noch das Parlament in
großer Zahl bevölkern - Băsescu schätzt ihre Zahl auf gut hundert, lehnten den
so genannten Raport final ab; ebenso
wie jene Ultrarechten aus dem Lager der Großrumänienpartei des Antidemokraten
Corneliu Vadim Tudor, die, ausgehend von ihrem Führer, zum Teil aus der alten
Securitate stammen.
Gleich
nach der Verkündung der Ergebnisse der Präsidentenkommission zur Analyse der kommunistischen
Diktatur in Rumänien, die bald nur noch, nach ihrem Vorsitzenden benannt, Tismăneanu- Kommission heißen sollte und
der öffentlichen Verdammung des Kommunismus durch den Präsidenten wurden aus
manchen Ecken Stimmen laut, primär aus dem Lager der extremen Rechten, die
polemisch an dem Expertenbericht herummäkelten und kritisierten. Der Bericht
der Tismăneanu-Kommission sei voller gravierender Mängel, mit Fehlern und Unwahrheiten
behaftet.
Indem
der analytische Bericht mehr polemisch als sachlich aufs Korn genommenen wurde,
sollte der unbequeme und im Land als Populist verschriene Präsident selbst
geschwächt, destabilisiert und schließlich abberufen oder abgewählt werden. Mit
dem Argument, Băsescu hätte selbstherrlich mehrfach gegen die Landesverfassung
verstoßen, wurde der Präsident zunächst vom rumänischen Parlament suspendiert,
bevor sich in dem Referendum vom 19. Mai 2007 sein politisches Schicksal
endgültig entscheiden sollte.
Hatte
Präsident Traian Băsescu einen politischen Fehler begangen, indem er mit der
moralischen Verurteilung des Kommunismus ein unmissverständliches Zeichen setzte?
Und hatte er sich vertan, als er mit der Berufung des Vorsitzenden der
Aufarbeitungskommission auf die Person Vladimir Tismăneanus setzte? Wurde er
nunmehr über beide Entscheidungen angreifbar? Vieles deutet darauf hin, dass
die Feinde des Demokratisierungsprozesses, namentlich jene hundert ehemalige
Securitate-Kader als Abgeordnete und Teile der sozialistischen Partei, hinter
welcher die graue Eminenz Ion Iliescu, der langjährige Präsident und Ceauşescu-Nachfolger,
steht, im Kommissionsvorsitzenden Tismăneanu die Achillesverse ausgemacht hatten;
jenen Schwachpunkt, über den der Präsident zu stürzen war - denn Tismăneanu, in
den Augen seiner Verleumder ein Renegat, war als antikommunistischer Dissident
jüdischer Herkunft, formal leicht zu diskreditieren, vor allem in den Augen
jener, die das allzu Plakative dem differenzierten Wissen vorziehen und die dem
Gerücht mehr vertrauen als der gesicherten Erkenntnis.
Selbst
ehemalige Widerständler und Bürgerrechtler, die mit dem abrollenden Demokratisierungsprozess
noch lange nicht zufrieden sind und sich übergangen fühlten, ließen sich in den
Reigen breiter Verleumdungen hineinziehen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie, die
aktiven Bekämpfer des Kommunismus von einst, nicht selbst als Mitglieder oder
Experten in die Aufarbeitungskommission berufen worden waren. Einige von ihnen
durchschauten die Diskreditierungskampagne rückwärtsgewandter Kräfte nicht und
distanzierten sich bis zu einem gewissen Grad von der Person des
Kommissionsvorsitzenden.
Plötzlich
stand der wissenschaftliche Koordinator der Kommission Vlamidir Tismăneanu, zu
dem ich während der Abschlussarbeiten an dem Report und an diesem Buch
intensiven Kontakt unterhielt, mitten im Kreuzfeuer von allen Seiten. Vor allem
für die Rechten um Vadim Tudor war er, der einstige Kommunistenspross, zum
Stein des Anstoßes geworden. Diese gezielte Anfeindung ist keine singuläre Erscheinung,
die nur auf eine Person gemünzt wäre, sondern sie richtet sich gegen alle
fünfzig Wissenschaftler der Kommission, die an dem Bericht zur Verurteilung der
kommunistischen Weltanschauung als Berater und Autoren mitwirkten.
Als
Präsident Băsescu sich für den seit Jahrzehnten prominent ausgewiesenen Politologen
von der Universität Maryland als Kopf der Kommission entschied, suchte er nach
einem Fachmann, der das Phänomen des Kommunismus aus eigener Anschauung kannte.
Es verlangte ihn nach einem Experten, der als ehemaliger Insider die Thematik von innen aus aufrollen und sezieren konnte,
der in anatomischer Analyse das erarbeiten konnte, was den Totalitarismus in
Form des rumänischen Kommunismus seit 1945 ausmachte. Dabei verkannte der sonst
kluge und politisch versierte Präsident vielleicht die Tatsache, dass seine
parlamentarischen Widersacher bis hin zum gegnerischen Ministerpräsidenten ihm
gerade daraus jenen berühmten Strick drehen würden, der ihn die Präsidentschaft
kosten konnte.
Demagogie, Hetze und
offener Antisemitismus heute
Vladimir
Tismăneanu, der spät, doch nicht zu spät erwachte Dissident aus dem
amerikanischen Exil, wurde von den Gegnern der demokratischen Entwicklungen
schnell zum Buhmann stilisiert, ähnlich wie es andersdenkende Intellektuelle
wie Doina Cornea, Mircea Dinescu und Mihnea Berindei schon erlebt hatten, nur radikaler
und vielfach schäbiger. Alles, was gegen Tismăneanu diskreditierend ins Feld
geführt werden konnte, wurde genutzt, um ein Zerrbild zu erzeugen, das den
Vorsitzenden, die Kommission und die erzielten Ergebnisse der Studie in Frage
stellte. In einem Land, wo die Kultur des Misstrauens ein halbes Jahrhundert hindurch
höchst effizient kultiviert worden war, blühte die Saat der Verdächtigungen
immer noch und trug auch reiche Früchte.
Der
Angriff der Rechten, die nach ihrem Verständnis allein die nationalen Interessen
Rumäniens vertraten, richtete sich gegen den Kommunismus-Experten schlechthin.
Man bezweifelte ungeniert Tismăneanus Sachkompetenz und warf ihm, dem Sohn
jüdischer Eltern, seine Abstammung vor und im gleichen Atemzug seine
ideologische Einbettung in das Umfeld der kommunistischen Nomenklatur der
Nachkriegszeit. Dann kramte man in seiner Vergangenheit, wurde partiell fündig
und streute scheinbar belastende Partikel nach guter alter Securitate-Manier,
die vom Eigentlichen ablenkten und fabrizierte Gerüchte, die mehr desinformierten
als sie zur Aufklärung und Wahrheitsfindung beitrugen. Plötzlich sah es für
einige oberflächliche Beobachter so aus, als hätte man mit der Berufung
Vladimir Tismăneanus wieder einmal der Bock zum Gärtner gemacht; genauso wie
die SRI, die Nachfolgeorganisation der Securitate, den Zugang zu den
CNSAS-Akten bestimmte. Das war die Chance für Demagogen, vor allem für den
größten und rücksichtslosesten unter ihnen.
Gerade
Vadim Tudor, der Chef der Großrumänienpartei, der bereits in einer Reihe von
Gerichtverfahren des Antisemitismus, der üblen Nachrede und der Verleumdung
bezichtigt wurde, zog alle Register des schlechten Geschmacks, um gegen den
Politologen von der Universität in Maryland zu Felde zu ziehen, ihn wüst zu
beschimpfen und zu stigmatisieren, in der Hoffnung, etwas werde schon hängen
bleiben, zumindest im Kopf einiger seiner undifferenziert denkenden Landsleute,
die sein Wählerklientel darstellten. Tudor, der mit den Blättern Romania Mare, Politica und Tricolorul gleich drei meinungsbildende
Publikationsorgane besitzt und dessen Privatvermögen auf einen zweistellige
Millionenbetrag in Euro geschätzt wird, überschüttete die Tismăneanu-Kommission
schon im Vorfeld der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse und der anschließenden
Verurteilung der kommunistischen Weltanschauung in dem Hetzbericht Vladimir Tismăneanu, ein jüdischer
Provokateur, der Traian Băsescu eine fatale Falle stellt - mit einer wahren
Flut von antisemitischen Beschimpfungen, wie man sie in Europa seit Julius
Streichers Hetztiraden im Stürmer
nicht mehr vernommen hat.
Der
vielfach durch kritische Buchveröffentlichungen über den Stalinismus und Kommunismus
ausgewiesene Wissenschaftler, der sich seit seiner Flucht im Jahr 1981 für ein
Leben in Freiheit entschieden hat und
als Regimekritiker über Jahre Verfolgungen ausgesetzt war, muss sich - zum
Staunen der zivilisierten Welt - die übelsten Verleumdungen und Beschimpfungen
anhören, die ein Hetzredner überhaupt formulieren kann. Vadim Tudor, der
zufällig auch noch Vizepräsident des Rumänischen Senats ist und als Senator die
Staaten des Alten Europa bereist, und der auch sonst gern gegen Gott und die
Welt wettert, gegen Amerika und Russland, gegen KGB und CIA, greift, um
Tismăneanu lächerlich zu machen, in die unterste Schublade des
Beschimpfungsarsenals, holt von dort vieles von dem hervor, was seit jeher an
Schmähungen gegen Juden vorgebracht wurde und bezieht es auf Tismăneanu. Er sei
ein vaterlandsloser Geselle - die Securitate führte seine Verfolgungsakte
symptomatisch unter Kain - der sich
zum Richter der rumänischen Vergangenheit aufschwinge. Die Juden hätten den
Rumänen den Kommunismus gebracht, unter ihnen die Eltern des Vorsitzenden, und
nun wolle er, der Mann ohne nationale Wurzeln, sich zum Richter eines Volkes
aufschwingen. Leider wiederholte Paul Goma in seiner jüngsten Abrechnung mit
Tismăneanu die gleichen Argumente, nur etwas milder im Ton. Tismăneanu, der
wohlbehütete Kommunistenspross von gestern, der bis zu seiner Flucht von den
Segnungen des Kommunismus profitiert habe, wolle nun als vermeintlicher
Antikommunist mit den Schandtaten des Kommunismus abrechnen und die Geschichte
der Rumänen neu schreiben, schimpft Tudor. Auch darin folgt ihm der inzwischen
rechtslastige und zunehmend antisemitischer schreibende Goma. Ungeniert und
maßlos wettert Tudor mit einer Stimme, wie man sie bisher nur von den
eingefleischtesten Judenhassern unter den Nazis kannte, in seiner als
christlich und europäisch selbstapostrophierten Zeitung Tricolorul : Wer gibt einem
Vagabunden vom Format dieses Chamäleons das Recht, die Rumänen bei sich zuhause
zu richten? Stellen uns schon wieder die Juden die Ordnung in Kultur und
Geschichte her? Ich glaubte, wir seien diese Heimsuchung bereits los! Corneliu
Vadim Tudor, ein langjähriger Securitate-Mitarbeiter, Ziehsohn Eugen Barbus,
Parteipropagandist in der Zeitschrift Săptămăna,
Denunziant von Schriftstellerkollegen, poetischer Stümper und als
Ceauşescu-Lobhudler lange bedacht, Adrian Păunescu den panegyrischen Rang
streitig zu machen, vergaß bei diesen Verleumdungen des deklarierten
Antikommunisten, dass er selbst das ultimative Chamäleon verkörperte - eines
mit Tarnfarben und Wendehals, denn Tudor hatte bei bewusster Umgehung der Mitte
die Haut des Ultralinken abgelegt, um in das Fell der Rechtsradikalen zu
schlüpfen. Ein totalitäres System gegen ein anderes genau so totalitäres System
einzutauschen, macht ihm, dem chauvinistischen Antidemokraten, wohl keine
Schwierigkeit. Professor Vladimir Tismăneanu, dessen historische und
politikwissenschaftliche Autorität durch solche Anfeindungen untergraben wird,
muss sie ertragen und in einer derart vergifteten Atmosphäre seine Aufklärungsarbeit
im Land weiterführen. Doch Europa hört dem Antisemiten Tudor weiter zu, wenn es
überhaupt zuhört, und tut nichts dagegen!
An
welche Fakten konnte der Propagandist in eigener Sache anknüpfen? Gab es überhaupt
Belastendes in der Vergangenheit des Wissenschaftlers? Und war nun Tismăneanu
wirklich nur ein verkappter Kommunist, der überhaupt kein Interesse an der
wirklichen Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit Rumäniens haben
konnte, wie immer wieder wiederholt wurde?
Während
nur wenige Zeitungen neutral blieben, wie der Cotidianul, der ausgewogen und sachlich berichtete und schon früh
den vorläufigen Endbericht in das Internet stellte, stimmten weitere Blätter
aus Sensationslust in den Chorus der Verleumdungen ein. Auch für Teile der
Presse war Vladimir Tismăneanu nicht irgendein unbelasteter
Politikwissenschaftler aus einem westlichen Elfenbeinturm, der eine
Wissenschaftskommission von Historikern einberief; kein harmloser und naiver
Zögling des kommunistischen Systems, der viele Jahre nur indirekt von den
Privilegien des Parteiapparates profitierte, bevor aus dem strammen Saulus ein
geläuterter Paulus wurde, sondern sie sahen in ihm einen Perspektivagenten der
Securitate, der mit Hilfe dieser Verbrecherorganisation in den Westen
geschleust worden war.
Diese
These, verbunden mit äußerst grotesken Agentengeschichten, wurde bereits im
Vorfeld von der Zeitung Ziua in dem
verleumderischen Bericht Der Agent
Volodea in die Welt gesetzt. Andere tendenziöse Presseberichte und
Internetbeiträge knüpften an die konstruierten Vorwürfe an und verbreiteten sie
über elektronische Nachschlagewerke, wo sie, zumindest bei gutgläubigen
Erstlesern, viel Schaden anrichten. Selbst der Fachmann muss heute genau darauf
achten, welchen Informationen er überhaupt noch vertrauen kann. Über die
Desinformationskampagne, hinter der mit hoher Wahrscheinlichkeit, ja Sicherheit
alte Securitate-Strukturen zu vermuten sind, wurde eine Isolation der
Kommission und des Landespräsidenten über Spaltung angestrebt, ganz nach dem
alten Motto: divide et impera.
Ferner
sollte der Eindruck erweckt werden, auch demokratische Kräfte und ehemalige
antikommunistische Dissidenten wie Goma, Cană, Cornea, Frunză und viele andere,
könnten es nicht ganz verstehen, dass der Präsident des Landes, Băsescu, eine
kontroversierte, wenn nicht sogar kompromittierte Persönlichkeit zum Kopf der
Aufarbeitungskommission berufen hat. Denn, und das sind die Fakten, die gerne
verdreht werden, Vladimir Tismăneanu ist tatsächlich der Sohn kommunistischer
Idealisten, die im Spanischen Freiheitskampf aktiv waren. Der Vater lehrte nach
1945 Marxismus-Leninismus an der Bukarester Universität, während die Mutter im
Gesundheitsministerium Karriere machte. Da ist viel Raum für Polemik - Goma
nutzt beides, wenn er selbstapologetisch zu Felde zieht. Doch was kann der Sohn
für die Biographie des Vaters, die übrigens im Bericht der Kommission nicht
geschönt wird, der Sohn, der sich in einer radikalen Abkehr von den Idealen der
Eltern distanziert hat? Darf nicht jeder einen eigenen Weg gehen? Wahrheiten
und Legenden wurden und werden immer noch miteinander vermengt. So soll
Vladimir, Schulkamerad der Kinder von Staatschef Dej und Diktator Ceauşescu,
nach dem Studium zum Propagandisten der Jungkommunisten und des Zentralkomitees
der Kommunistischen Partei aufgestiegen sein. Er habe sich in jenem Rahmen mit
aller Kraft für die Sache und den Triumph der kommunistischen Weltrevolution
eingesetzt. In seiner Dissertation über die Neue
Linke und die Frankfurter Schule habe er die fatale These vertreten, der
westliche Kapitalismus könne endgültig nur durch die sozialistische Revolution
besiegt und als gesellschaftspolitisches Modell abgelöst werden. Diese
Behauptungen, die bei einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der
Materie sicher leicht überprüft und wohl auch entschärft werden könnten - doch
dazu gab es bisher nie Gelegenheit - waren und sind natürlich Wasser auf die
Mühlen der Kritiker und Skeptiker, vor allem der übergangenen unter den so
genannten Experten von außen.
Aus der
Sicht konservativer Kräfte und ehemaliger antikommunistischer Dissidenten, die,
wie ich damals, ein Leben lang genau das ideologische Gegenteil vertraten, ist
nur schwer nachzuvollziehen, wie eine Person, die einige Zeit prokommunistischen
Anschauungen nahe stand, an die Spitze einer Kommission berufen werden kann,
die sich die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur zum Ziel gesetzt hat.
Der fehlende Schwarz-Weiß-Kontrast spricht dagegen. Tismăneanu, der Insider,
kannte die Welt der stalinistischen Nomenklatur, und er redete ihre Sprache;
doch hatte er auch einen Sinn für die Welt der Millionen Minderprivilegierten
im Land und für die Betroffenheit der zahlreichen Opfer? Daran zweifelt Goma
mit anderen Verfolgten des Systems.
Da ich
ein Leben lang an einer klaren, ethischen
Linie festgehalten habe und diese Messlatte auch anderen vorlegte, überzeugt
davon, dass die Moral kein Wert ist, auf den man je nach Lust und Laune
verzichten kann, hätte auch ich bevorzugt einen radikalen Neuansatz herbei gewünscht, einen für alle
nachvollziehbaren Schritt; und mit der Zäsur einen antikommunistischen Neufang
wie in Polen und Tschechien statt eines langwierigen, lauen Übergangs mit
intransparenten Übergangsakteuren von gestern.
Die
Desinformationskampagne der Rechten und der Linken erreichte im Fall Vladimir
Tismăneanus bis zu einem gewissen Grad die beabsichtigte Diskreditierung der
Person und damit auch eine Schwächung seines Mentors, des Präsidenten der Republik
Traian Băsescu. Denn der erste Eindruck, der sich schnell aufgrund der
Aussagekraft des Faktischen festsetzen kann, führte manchen nicht tief genug forschenden
Beobachter aufs Glatteis. Die Verabsolutierung einer Teilwahrheit, die nur
einen existentiellen Abschnitt betrifft, erreichte ihr Ziel. Die vielen Gutgläubigen
gingen gerissenen Gerüchtestreuern auf den Leim und folgten der oberflächlichen
Betrachtungsweise, die vom Eigentlichen ablenkte. Das ist symptomatisch und
verweist auf bestimmte Wirklichkeiten im Land und auf die Zerrissenheit einer
ohnmächtigen Gesellschaft.
Absetzung und Dissidenz
aus dem Exil - Ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Kaum
gesehen und vielfach verkannt bisher wurde die zweite Seite der Medaille: die innere Auflehnung des Wissenschaftlers
während der Jahre der Heuchelei in der Ceauşescu-Diktatur und die Konsequenz
daraus: die bewusste Distanzierung durch konkretes Dagegenhandeln.
Vladimir
Tismăneanu, zweifellos im Milieu von orthodoxen Kommunisten groß geworden und
bis zu einem gewissen Grad von diesem Milieu fremdbestimmt, sah irgendwann den
Irrtum seines Umfelds ein, besann sich auf die eigene Freiheit und schlug sich - spät
vielleicht, doch noch nicht zu spät, in das Lager der Antikommunisten,
nachdem er einige Jahre unzufrieden und frustriert im System mehr überlebt als
gelebt hatte. Die geistigen Früchte dieser Zeit sind philosophisch-spekulative
Schwärmereien und Essays in konventionellen Parteizeitschriften, zu denen Intellektuelle,
wenn sie überhaupt als Geister überleben wollten, fast gezwungen wurden. Bei fast allen Literaturschaffenden aus
jener Zeit finden sich solche Konzessionen - mit dem fast obligatorischen
Ceauşescu- oder Parteizitat, nicht nur bei den Lobhudlern. Doch Tismăneanu
kann von sich entschieden behaupten, niemals mit der Securitate oder der
Kommunistischen Partei zusammen gearbeitet zu haben.
Um 1981,
als ich gerade dabei war, in Genf die Klage gegen das Ceauşescu-Regime auf den
Weg zu bringen, floh Tismăneanu im Alter von dreißig Jahren, also fast zehn
Jahre älter als ich es bei meiner Ausreise war, in den Westen. Zunächst zog es
ihn zu Freunden nach Spanien, dann zu Verwandten nach Venezuela und schließlich
in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die
hanebüchene Geschichte jenes obskuren Autors aus Ziua, der spekulierte, Tismăneanu hätte nur mit Hilfe
nordamerikanischer Kommunisten, die für ihn bei der CIA intervenierten, in den
USA Fuß fassen können, zeugt von der Realitätsfremdheit und der absoluten
Unkenntnis der Verhältnisse in den USA. Sie ist genauso aberwitzig wie die
Behauptung, der Dissident Tismăneanu, der über Jahre den Kommunismus bekämpfte,
sei von Rechten bedroht worden. Der Flüchtling wäre wohl niemals in den
Vereinigten Staaten aufgenommen worden, wenn seine persönliche Integrität nicht
nachweisbar festgestanden hätte. Nicht die Kommunisten Nordamerikas, denen er
gehuldigt haben soll - sic! -, halfen Tismăneanu bei der Integration, sondern
Leute wie Norman Podhoretz, der einflussreiche Neokonservative von Commentary, einer Zeitschrift für
politische Analytik, die, wie mir seinerzeit ein amerikanischer Studienkollege
und Mitarbeiter versicherte, auch von Präsident Ronald Reagan gelesen wurde.
In den
Vereinigten Staaten versuchte Tismăneanu dann von Anfang an und konsequent bis
in diese Tage während eines Vierteljahrhunderts die Jugendsünden seines Umfelds
- inklusiv der eigenen - bekannt zu machen, aufzuklären und aufzuarbeiten - als
Sühne und wissenschaftlich-ethische Wiedergutmachung vielleicht für eine spät vollzogene Dissidenz, die im
eigentlichen Sinne des Wortes tatsächlich eine wahre Dissidenz ist, während ich und andere Andersdenkende keine
Parteidissidenten, keine Abweichler von der reinen Lehre waren, sondern deklarierte
Regimegegner und brave Antikommunisten von Anfang an.
Was
Vladimir Tismăneanu von Amerika aus als vielfach anerkannter und ausgezeichneter
Professor der Politikwissenschaft leistete, kann als eine moralische
Reinwaschung verstanden werden, die er nicht nur für sich selbst betrieb,
sondern für die zahlreichen kompromittierten Intellektuellen im Land, die seit
ehedem den Typus des Anständigen Rumänen zu verkörpern suchten. Allein schon
die Tatsache, dass Tismăneanu in Amerika wirken und von amerikanischem Boden
aus seine politische Aufklärungsarbeit betreiben darf, verweist auf die hohe
Akzeptanz und Anerkennung seitens der Amerikaner, die ihm und seiner Mission
zuteil wird. In zahlreichen großen Zeitungen und Zeitschriften der Welt können
seine Analysen des Kommunismus nachgelesen werden.
Tismăneanu
hat als langjähriger Mitarbeiter des Senders Radio Freies Europa noch während
der Zeit der Ceauşescu-Diktatur eindeutig Position bezogen und bis hin zur
Ausarbeitung der Dokumentation und Analyse der Verbrechen während der
kommunistischen Herrschaft in Rumänien bewiesen, dass er als Mensch integer und
politisch über alle Zweifel erhaben ist. Dafür ist er als Kain von der Securitate bis zur Revolution beobachtet und verfolgt
worden.
Beginnend
mit dem Druck, den die Geheimdienstler auf die ihm Land verbliebene Mutter ausübten,
bis hin zu anonymen Anschwärzungen am wissenschaftlichen Institut der
Universität Maryland, wo ihm, zur Verblüffung amerikanischer Kollegen, die
kommunistische Vergangenheit des Vaters zum Vorwurf gemacht wurde, blieb
Tismăneanu kaum etwas an Psychoterror seitens der Securitate erspart. All dies
wurde von seinen weltanschaulichen Kritikern nicht gesehen, übersehen oder
vergessen. Selbst ehemalige Oppositionelle und Andersdenkende verkannten diesen
Aspekt und beteiligten sich damit, oft ungewollt, an der Hetzjagd und Demontage
von Tismăneanu und an den Mitgliedern der Präsidentenkommission.
Einige
unversöhnliche Regimekritiker sehen die Dinge viel skeptischer und teilen meine
Auffassung der Dinge kaum. Aus ihrer Sicht wäre eine formal unbelastete Besetzung
sinnvoller gewesen. Eine gewisse Bitterkeit der Weggedrängten und Ignorierten
ist dabei nicht zu verkennen. Sogar Präsident Băsescu, der, als gewandter Politiker
selbst nicht ganz frei von Demagogie und deshalb im Land auch nicht unumstritten
ist, attestieren äußere Kritiker Kurzsichtigkeit und Provinzialismus. Während
die Polen die Größe aufbrachten, einen schlichten Arbeiter ohne besondere
Qualifikationen zum Staatspräsidenten zu wählen, schoben die Rumänen, sprich
die Postkommunisten unter dem Altstalinisten Ion Iliescu, der sieben Jahre lang
das Heft des Handels nicht mehr aus der Hand geben sollte, die wenigen
Bürgerrechtler im Land ins Abseits und vertrösteten sie teilweise mit Alibi-Pöstchen.
Băsescu hat daran nichts geändert!
Kein
Wunder, dass der Aufschrei selbst aus jener Gruppe heftig war und immer noch
anhält.. Dabei merken die früheren
Andersdenkenden oft nicht, dass sie mit ihrem einseitigen Handeln nur den
Interessen der alten Kräfte dienen, den Securitate-Nachfolgern, die heute
mächtige Oligarchen und Wirtschaftsbosse sind; und dass sie mit ihren teils
destruktiven Kommentaren gerade die demokratischen Kräfte in Land schwächen
Das
diktatorisch-repressive und gleichzeitig ideologisch-dogmatische System des
Kommunismus in Rumänien hat als großes Milieu viele Menschen im Land geformt
und verformt. Im Fall Tismăneanus war das Milieu seiner Kindheit und Jugend übermächtig
und manipulierte ihn solange, bis er selbst die Kraft fand, sich der Determinierung
entgegenzusetzen und sich ihrem Einfluss durch Flucht zu entziehen. Deshalb neige
ich nicht nur zu einer milden Apologie des Verführten, sondern bekenne mich
auch offen entscheiden dazu, wie ich auch für Caraion und andere Missbrauch-
und Systemopfer, die sich irgendwann aus eigener Kraft befreiten, volles Verständnis
habe, obwohl ich sonst gerne den reinen Weg gegangen war und das konsequente
Verhalten von Anfang bis zum Ende eingefordert hatte. Einsicht und Gnade auch
hier, wenn die Reue offensichtlich und die Katharsis erfolgt ist. Manchmal
bedarf es auch einer Entschuldigung, wenn man Fehler gemacht hat – unschuldig
schuldig. Die Verstrickung in die Schuld muss nicht unbedingt mit dem selbst
verursachten Schuldigwerden einsetzen.
Das
Selbstsein über die Vergangenheitskorrektur Tismăneanus fand erst im Westen
statt, aus einer tieferen Einsicht heraus, die auf Freiheit zurückzuführen ist. Tismăneanu war auch nicht der einzige
Kommunist, der eine bewusste Umkehr und
Wandlung vollzogen hat. Dan Deşliu, ein Lyriker, der mit Erfolg und Anklang
die Kommunistische Partei besang, hatte es ihm vorgemacht, indem er einen radikalen Bruch mit seiner Vergangenheit
vollzog. Nach seiner Distanzierung von der kommunistischen Weltanschauung an
der Partei verstarb Deşliu unter rätselhaften Umständen.
Ein
Gerücht besagt ferner, Ion Iliescu, der Altkommunist und langjährige Präsident
Rumäniens in der Nachfolge Ceauşescus, heute noch der wohl mächtigste und
einflussreichste Mann im Parlament, habe Băsescu empfohlen, Vladimir Tismăneanu
zum Vorsitzenden der Aufarbeitungskommission zu berufen. Das ist wenig
plausibel. Denn Tismăneanu, der die exponierte Herausforderung annahm und ohne
Rücksicht auf persönliche Bindungen die Schuldigen beim Namen nannte - neben
Leuten wie Dej, Tudor, Păunescu - auch den eigenen Vater und Iliescu, nahm die
Sache sehr ernst, wissenschaftlich ernst, weil ihm die historische Tragweite
der Mission bewusst war.
Unzulänglichkeiten und
Diskrepanzen
Trotzdem:
Die Kommission zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Rumänien stand
und steht unter keinem guten Stern. Aber auch dies ist symptomatisch für eine
ehemalige Diktatur auf dem Weg in demokratische Verhältnisse und für die
Umbruchsituation. Manches erinnert an die Büchse der Pandora, aus der zu viele
entfesselte Geister entflohen. Die Aufgabe, die in kurzer Zeit zu meistern war,
konnte eigentlich nicht zufriedenstellend bewältigt werden. Aus vielen Gründen.
Zu viele
Schuldige wurden in dem Bericht Raport
final namentlich erwähnt, und zugleich zu wenige. Manche Helden wurden
leicht glorifiziert, andere wurden ganz vergessen. Unzulänglichkeiten gab es
von Anfang an - und damit Angriffspunkte unterschiedlicher Kreise, die allesamt
ihre Interessen bedroht sahen.
Die
Kommission hatte nur wenig Zeit, um die enorme Materie von 45 Jahren Kommunismus
und Diktatur aufzuarbeiten, kaum sechs Monate für Recherchen und Ausarbeitung.
Diese Zeitspanne ist, wie jeder weiß, der wissenschaftlich forscht und
veröffentlicht, überaus knapp. Jahre intensiver Forschung wären notwendig
gewesen, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen. Diese Zeit fehlte, weil die
von Präsident Băsescu im Vorfeld der EU-Aufnahme Rumäniens betriebene
Verurteilung politischer Wille war. Băsescu wollte den Europäern entgegenkommen
- mit einem unüberhörbaren Paukenschlag. Die Bumerang-Wirkung ist bekannt.
Auch die
Ausgewogenheit der Mitgliederrunde, die von einem Expertenkreis mit zum Teil
wissenschaftlich schmalbrüstigen Fachleuten verstärkt wurde, lässt viele
Wünsche offen. Der streitbare Schriftsteller Paul Goma, der nach wie vor das
Dissidentenmonopol für sich reklamiert und der die historische Kompetenz der
Kommission in Frage stellt, war nicht zu gewinnen, aus zahlreichen Motiven,
auch persönlicher Art. Tismăneanu, der ihn freundschaftlich eingeladen hatte,
ging zu Goma auf Distanz, nachdem dem Hitzkopf die abkanzelnde Bemerkung Bolschewikenspross entglitten war. Ja,
beide Eltern seien auf russischen Panzern und als sowjetische Staatsbürger
gekommen, um den Kommunismus im Land durchzusetzen, erhärtet der inzwischen
einsamer geworden Goma heute seine Haltung. Er fühlt sich nach wie vor verkannt
und ist verbittert darüber. Die Basis für eine wissenschaftliche Zusammenarbeit
konnte nicht mehr gegeben sein, wenn die persönliche Integrität des Kollegen in
Frage gestellt wurde.
Auch
Ionel Cana, der nur als Gewerkschaftsgründer bekannt wurde, ohne vorher und
nachher größere oppositionelle Aktivitäten entfaltet zu haben, wurde etwas
ignoriert, indem seine Meriten bei der SLOMR-Gründung nicht adäquat gewürdigt
wurden. Seine polemische Replik in einem rechten Blatt Der Tismăneanu-Bericht ist Makulatur, in welchem er offensichtlich
von seinem Interview-Partner Roncea, einem obskuren Journalisten und dem Blatt Ziua instrumentalisiert wird, ist eine
unbefriedigende Antwort darauf. Ein weiterer Aufschrei, der sich bald zu einer
wilden Email-Auseinandersetzung steigerte, kam von einem anderen Verkannten,
von dem bereits totgesagten Streikführer Costica Dobre aus den Tiefen des englischen
Exils. Seine Verdienste hatte man in den erwarteten Würdigungen genauso
unangemessen geschildert wie jene des schlichten Dauerquerulanten Vasile
Paraschiv oder jene des lange exilierten Journalisten Victor Frunză. Sie alle
hatten mehr Anerkennung erwartet. Sie schlossen sich deshalb zusammen und
opponierten auf ihre Weise gegen den Raport
final, gegen den endgültigen Report oder Abschlussbericht, den es in der Wissenschaft,
wo alles in Bewegung bleibt und immer neue Fakten auftauchen können, gar nicht
geben dürfte.
Da die Geschichte der SLOMR und somit das
wichtige oppositionelle Phänomen einer freien Gewerkschaftsgründung ebenfalls
nicht angemessen beschrieben worden war, bestenfalls leicht gestreift wurde,
hätte auch ich auf die Barrikaden gehen können. Schließlich wurden die Abläufe
in Temeschburg in der ersten Fassung nicht einmal erwähnt. Doch das geschah
nicht aus Missachtung, sondern vielmehr aus Unkenntnis und chronischem
Zeitmangel. Die Wissenschaftler sahen sich aus Zeitgründen gezwungen, nur mit
gedruckten Quellen arbeiten zu müssen. Solange die Druckfassung des Berichts
des Analyseberichts noch nicht ausgearbeitet war, machte ich mich für eine
Ausweitung und Ausdifferenzierung stark, in der Hoffnung, einige Unzulänglichkeiten
des Reports zu beseitigen. Auch setzte ich mich in den letzten Wochen und
Monaten direkt dafür ein, offensichtliche Fehler zu eliminieren, wenn auch mit
mäßigem Erfolg. Eine strigente Überarbeitung des Reports war wohl nicht mehr
durchzusetzen, weil viel zu viele Beanstandungen von allen Seiten auf das
Autorenteam zukamen. Gerne hätte ich die SLOMR-Materie adäquat berücksichtigt
gesehen, ebenso die Exodus-Problematik aus deutschem Blickwinkel betrachtet.
Seitdem es die halbe Million Deutschstämmiger aus dem Banat und aus Siebenbürgen
nicht mehr gibt, zählt auch die deutsche Sicht der Dinge nicht mehr allzu viel.
Trotzdem:
Was jetzt mit der Studie Raport final
vorliegt, ist ein substantielles und wertvolles Anfangswerk, das allerdings in
seiner provisorischen Ausformulierung stilistisch ein noch uneinheitliches,
nicht immer wissenschaftlich-akademisches Kompilat darstellt. Es ist ein
Sammelwerk, eine Dokumentation mit sehr guten analytischen Passagen, an welchem
drei bis vier Dutzend Autoren mitgestrickt und mitgeschrieben haben. Viele
Köche müssen den Brei nicht unbedingt verderben! Der Raport ist zweifelsfrei die umfassendste Beschreibung des
Kommunismus auf rumänischem Boden in schonungsloser Form, ein Werk, auf dem man
weiter aufbauen sollte und das noch unendlich ausdifferenziert werden muss. Das
Einzelereignis, das von machen Akteuren gerne verabsolutiert wird, musste
vorerst zugunsten des Ganzen zurücktreten, schon aus räumlichen und zeitlichen
Gründen. Der Zeitfaktor war neben der Mittelknappheit die vielleicht substantiellste
Hürde. Der Bericht setzt deshalb nicht auf Neuerkenntnisse, die etwa durch
umfassende Zeitzeugenbefragungen und Auswertungen hätten erreicht werden
können, sondern er vertraut bereits veröffentlichter Literatur, was, wie die
unerforschte SLOMR-Thematik nahe legt, sehr unbefriedigend ist!
Gerade die Dissidenten meiner Zeit kommen
relativ schlecht weg, als Zeitzeugen wie als Experten. Sie erscheinen in einer
langen Liste von Namen, ohne dass der Grad ihrer Dissidenz differenziert
herausgearbeitet ist. Wurden sie für eine Sache oder eine Aktion, die über den
individuellen Widerstand hinausging, verfolgt, verhaftet und zu
Gefängnisstrafen verurteilt? Oder waren es nur Individuen, die gelegentlich von
den repressiven Kräften des Systems schikaniert wurden - und loyale Kritiker,
die nie Dissidenten sein wollten? Das macht einen essentiellen Unterschied,
zumindest aus der Sicht derjenigen, die die Gitter von innen aus betrachten
durften. In langen Aufzählungsreihen alle in einen Topf zu werfen, verwischt
das Phänomen der Dissidenz vollkommen und
die damit zusammenhängenden Werte wie
Würde und Freiheit.
Der viel
zu schnell erstellte Auftragsbericht, der wohl nur ein Mittel zum Zweck sein sollte und auch populistisch genutzt und
benutzt wurde, kommt in verschiedenen Punkten zu voreiligen Schlussfolgerungen, die an dieser Stelle nicht weiter
erörtert werden können, vor allem in der
Beurteilung der Dissidenz im Land. Etwas übereilt wird festgestellt, in Rumänien habe es im Unterschied zur Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder
Polen keine systematisch organisierte
Dissidentenbewegung gegeben, lediglich spontan entstandenen, individuellen
Protest; nur Auflehnungen von mutigen Einzelkämpfern, die dem totalitären
Regime entgegentraten. Die wohl
organisierte, religiöse Dissidenz der Baptisten um die ALRC und die weit
ausgedehnte und nicht auf einen Schlag zu beendende SLOMR-Bewegung sprechen
dagegen. Beide Manifestationen des Bürgerprotests mit erstaunlicher Kontinuität
konnten nur zustande kommen, weil sie im Vorfeld denkerisch vorkonzipiert und
vorbereitet worden waren. Das wurde bisher noch nicht ausreichend erkannt
und gewürdigt. Wohl auch deshalb, weil die Archive des ehemaligen Geheimdienstes
Securitate sowohl für die Forscher der Präsidentenkommission als auch für die
allgemeine politische, historische und soziologische Wissenschaft verschlossen
blieben!
An
Stelle der Dissidenten, die oft nur Handelnde waren und keine Analytiker oder
Wissenschaftler, berief Professor Tismăneanu andere Persönlichkeiten in die
Kommission, Menschen, die teilweise fast ihr gesamtes Leben der Beobachtung
kommunistischer Phänomene gewidmet und gegen totalitäre Systeme angekämpft
hatten wie das Kritikerehepaar Monica Lovinescu
und Vergil Ierunca.
Neben den Mistreitern aus dem nahen
persönlichen Umfeld des Forschers aus Maryland wie Christian Vasile und Dragos
Petrescu gehören dem Beirat mehrere ehemalige Widerstandskämpfer und
Bürgerrechtler an, unter ihnen der Ingenieur Radu Filipescu, der zum Widerstand
und zu offenen Demonstration gegen Ceauşescu aufgerufen hatte. Ferner sind
Romulus Rusan, Sorin Ilieşu und Stelian Tănase, alles Leute, die ihre
oppositionellen Meriten haben, Teil des Gremiums. Der allseits geschätzte
Schriftsteller Horia-Roman Patapievici sitzt mit am Tisch wie sein für Kultur
zuständige Kollege Nicolae Manolescu und der Wissenschaftler Sorin Alexandrescu.
Trotzdem
bilden Wissenschaftler und vor allem Historiker eine Minderheit in der
Kommission, die eigentlich eine internationalere Struktur haben sollte. Ebenso fehlen die Repräsentanten der
vertriebenen Deutschen Minderheit im Land, die ebenfalls Opfer der
kommunistischen Diktatur in Rumänien waren - bis hin zum finalen Exodus.
Ihre Interessen bleiben einer einzigen Expertin
überlassen, an deren wissenschaftlichen Leistung durchaus gezweifelt werden
kann. Die deutsche Sichtweise der Dinge bleibt weitgehend unberücksichtigt, wie
auch deutschsprachige Literatur zur Thematik wohl aufgrund von Sprachbarrieren
nicht rezipiert wird.
Wenig
glücklich erwies sich die Berufung anderer Mitglieder der Kommission. Der
Bischof von Temeschburg zog sich vorzeitig zurück; ferner Sorin Antohi, ein publizistischer
Kollege Tismăneanus von der Zeitschrift Revista
22, der sich als langjähriger Informator und Denunziant entpuppte. Der
Securitate-Zuträger Antohi, ein Literat und Übersetzer, hatte auch eine
Promotion an der Universität Iaşi vorgetäuscht und alle hinters Licht geführt,
die ihn bis zu seiner Enttarnung vertraut hatten - auch er ein Repräsentant
einer Zeit, die es aufzuarbeiten gilt.
Noch
gravierender hingegen wirkte sich der Fall Mihnea Berindei aus. Berindei, einer
der bekanntesten Gestalten des rumänischen Exils, dem ich seit unserer Begegnung
1979 in Paris absolut vertraute, erschien bei einer näheren Durchleuchtung
durch die dortige Gauck-Behörde CNSAS als potentieller Securitate-Agent. Ein
Schock! Zumindest für mich. Berindei, in dem Bericht der Kommission für
Dissidenz zuständig, wie bezeichnend, wies umgehend die Beschuldigungen zurück.
Tismăneanu, der ihm ebenfalls vertraut hatte, forderte Aufklärung und hielt die
Unschuldsvermutung aufrecht - doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen.
Wenn
Berindei, dessen fehlendes Curriculum vitae in der Internetpräsentation ihn als
Kommissionsmitglied weiter belastet, sich tatsächlich als der Edelspion der
Securitate erweisen sollte, was ich nicht für wahrscheinlich erachte, als verkappter
Wolf im Schafsfell, dann wird der ihm anvertraute Kompetenzbereich jüngster
Dissidenz noch kritischer zu betrachten sein. Doch selbst wenn sich das Ganze
als übles Machwerk der Securitate herausstellen sollte, die alle Register
zieht, um alle zu kompromittieren, bleibt der moralische Flurschaden bestehen.
Mihnea Berindei, einstiges Aushängeschild der Kommission, wurde und wird von
den Gegnern des Berichts zu einem kontroversierten Charakter stilisiert und arg
verdächtigt - und über ihn, was noch gravierender ist, auch der Präsident der
Kommission und der Landespräsident.
Für
Außenstehende, für den Betrachter aus dem Westen, der fern vom Tagesgeschehen
die neuesten Entwicklungen und Phänomene in Rumänien beobachtet, ist letzte
Gewissheit in der Einschätzung kaum möglich. Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit?
Was ist echt? Was ist Täuschung?
Die Wahrheit wird euch frei machen - Verrat und Verrat!
Wir
sehen nur Handlungsweisen. Danach müssen wir uns richten und urteilen! Während
der eine in die Freiheit flieht,
unterwirft sich der andere aus der Freiheit
heraus - wenn es denn so war - der Unfreiheit und der Niedertracht. Ist nun ein
Entwicklungsprozess, wie ihn die vielen Kains, Ahasvers und Fausts genommen
haben, nicht ehrenhafter und, aus christlich- humaner Sichtweise betrachtet,
nicht verständlicher als der Weg anderer Zöglinge innerer Parteikultur, die die
Freiheit ad absurdum führten, indem
sie ihr Tun und Trachten im freien Westen den Zwecken einer finsteren Diktatur
unterstellten? Einer entzog sich der Repression und Manipulation, um als
Eingeweihter aufzuklären; ein Anderer opferte die Ideale der Freiheit, um Gesinnungsgenossen und
Widerständler der Securitate auszuliefern. Die Namen wechseln, doch das
schockierende Phänomen bleibt.
Nur gibt es auch in Sachen Verrat noch feine,
graduelle Unterschiede. Caraion, von dem Manolescu behauptete, er hätte sich
schon früh mit Ceauşescu arrangiert, verriet, wenn er es denn tatsächlich getan
hat, seinen Nächsten, aus Notwehr, um, nach elf Jahren bitterster Haft, selbst
zu überleben und um gegen den Mann des Systems, gegen den Intimfeind Eugen
Barbu, den Mentor Tudors, auszusagen. Ist dieses existentielle Handeln
verwerflich? Doch andere verrieten, wenn sie verrieten, ihre idealistischen
Mitstreiter - zum Teil als freie Menschen im Westen - nur aus einem
persönlichem Ehrgeiz heraus.
Solche
Differenzierungen werden oft vergessen, wenn schon ein Indiz ausreicht, um mit
dem Stein zu werfen. Und Steinewerfer der Moral gibt es heute viele. Manche
exponierte Charaktere, aus dem diktatorischen Kommunismus hervorgegangen,
verweisen mit ihren entgegengesetzten Entwicklungen auf einen Konflikt der
gesamten Gesellschaft, der einer Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung
voraus geht. Der Weg ist noch weit. Tröstlich ist die Tatsache, dass zumindest
die Richtung stimmt.
Der
Professor aus Maryland erkennt heute in der Verurteilung des Kommunismus durch
den Landespräsidenten, dessen Entmachtung am Ende doch noch vermieden werden
konnte, einen symbolischen Akt von historischer Tragweite. Wenn die lange Reihe
der Namen, sein eigener wie jener des Präsidenten, längst vergessen sein
werden, wird die ideelle Tat, die aus der Freiheit
emanierte, noch Bestand haben - sie ist auch
die Conditio sine qua non für die Zukunft der rumänischen Nation in Europa.
Der
Bericht zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Rumänien war seit
dem Zeitpunkt seines vorläufigen Abschlusses auf der Internet-Seite des
Präsidenten der Republik abrufbar. Als Präsident Băsescu als Folge eines Misstrauensvotums
von 322 Abgeordneten im Parlament - und somit von einer demokratisch
legitimierten Mehrheit - suspendiert worden war, verschwand auch der
Tismăneanu-Report von der Seite. Als ich beim üblichen Nachlesen plötzlich keinen
Bericht mehr vorfand, durchfuhr mich ein Schrecken, verbunden mit einer üblen
Vorahnung. Mitten im wunderschönen Monat Mai 2007, wo alle Knospen sprangen, wo
in manchen Herzen, die Liebe aufgegangen, fühlte ich mich an düstere Zeiten erinnert,
an Zeiten, wo das freie Wort über Nacht abgewürgt wurde und wo die Alte
Ordnung, der Status quo ante, schnell wieder hergestellt worden war. Im
Mai-Heft 2007 der Halbjahresschrift für
südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, von Johann Böhm,
William Totok und Dieter Schlesak herausgegeben, erschien zufällig und avant la
lettre ein Auszug aus meiner Symphonie
der Freiheit - unter der richtungweisenden Makroüberschrift des Blattes Düstere Zeiten. Ein mahnender Zufall?
Es war kurz vor dem Referendum in Rumänien, das
über das politische Schicksal von Präsident Băsescu entscheiden sollte - und
somit auch über das Los des Raport final. Drohte wieder eine Restauration? Ein
Rückfall in diktatorische Zeiten? Besorgt meldete ich mich bei Professor
Tismăneanu in Washington und fragte nach, auch in Sorge darum, die endgültige
Fassung des Reports, in die eine Reihe eigener Zeugnisse und Anregungen
eingeflossen waren, werde nicht mehr fertiggestellt werden können. Wenn das
Referendum gewonnen sei und Präsident Băsescu die Schmach überstehe, werde der
Report wiederkehren und an seinem angestammten Platz zu finden sein, tröstete
mich der Wissenschaftler.
Er
sollte Recht behalten. Präsident Băsescu überstand das Referendum mit einem
Votum von 75 Prozent der Wählerstimmen, ohne dass die Probleme, die politische
Ohnmacht und die inneren Zwistigkeiten, die zur Lahmlegung geführt hatten,
danach erledigt gewesen wären.
Inzwischen,
im Frühling 2008, ist der Präsidialreport, der als Standardwerk zur
Beschreibung und Analyse des Kommunismus in ganz Osteruropa angesehen werden
kann, wieder aus den Bunkern, wo ihn andere gleich nach der Suspendierung Basescus
vergraben hatten, wieder hervorgeholt worden. In einer überarbeiten Fassung erschien
er als Druck, doch nur in rumänischer Sprache. Der Bericht zur Analyse und
Verurteilung der kommunistischen Diktatur in Rumänien kann auch wieder auf der
Internetseite des Präsidialamtes abgerufen werden - nach Monaten der Versenkung,
doch nur in alter Version. Die Druckfassung
erschien in kleiner Auflage, ist teuer und kaum überarbeitet. Als
Übersetzung wird der Bericht bald auch die Menschen über Rumänien hinaus erreichen.
Hoffentlich! Denn die jüngste rumänische Vergangenheit ist ein Teil der europäischen
Geschichte!
Neues
Ungemach droht aber immer noch. Kommissionspräsident Tismăneanu wurde erst
jüngst vor einer anstehenden Rumänienreise, die dem Abschluss des Berichtes
dienen sollte, erneut mit Drohungen obskurer Kräfte konfrontiert, Drohungen
alten Stils in Briefform, die sich nach Aussage Tismăneanus gegen alle fünfzig
Mitglieder der Kommission richten. Die
schon totgesagte Securitate ist scheinbar wieder auferstanden, lebt, ist heute
quicklebendig und agiert zur Beunruhigung aller, die sich für die
Demokratisierung einsetzten, auf die alte Weise. Sie bedroht unverfroren weiter
Menschen, ehemalige Dissidenten und Kritiker der kommunistischen Diktatur,
Historiker, Bürger mit Zivilcourage, die es wagten und wagen, Unrecht
öffentlich wissenschaftlich zu diskutieren und ist offensichtlich auch bereit,
nach altem Muster zu handeln.
Wie
reagieren die Demokraten Europas darauf?
Die Reaktion der Europäischen Union ist bestenfalls verhalten - sie reagiert
mit Kritik auf die unzureichenden Integrationsfortschritte Rumäniens und
Bulgariens, ist aber unfähig zu handeln und die Bedrohten zu schützen. Es
ist nicht viel anders als 1981 in Genf, als die Klage gegen die
Ceauşescu-Diktatur anstand. Die Bedrohung ist auch heute gegeben - und die
Bürgerrechtler sind ihrem Schicksal überlassen: Finis tragoediae?
Eine
Diktatur ist eine Diktatur - doch jede Diktatur ist anders. Deshalb kann die
Auseinandersetzung mit menschenverachtenden Regierungsformen nicht gründlich
genug sein. Konstant ist nur der Wert, nach dem alles Leben strebt, der Wert
schlechthin, der die Negativität aufhebt: die Freiheit!
Symphonia
Rumänien
braucht weiterhin eine systematische Vergangenheitsbewältigung durch die
Aufarbeitung der Geschichte - und das Land braucht ferner auch noch eine Kultur
der Versöhnung zwischen den politischen Fronten, die ohne eine Rehabilitierung
der zahlreichen Opfer, auch der Vertriebenen und Exilierten, nicht möglich ist.
Die
demokratischen Kräfte in Europa sind aufgerufen, den Brandstiftern von gestern,
die heute noch gefährlicher sind und erneut gegen Menschen hetzen, auf die
Finger zu sehen. Wenn die europäische Integration gelingen soll, dann funktioniert
dies nur ohne jene Brut des Bösen, die mit Hetze schon mehrfach Unheil über die
Menschheit brachte. Die Zigeuner Rumäniens - das sind die Tschetschenen Russlands:
aus der Sicht totalitärer Führer, die sich selbst zur Zivilisation zählen,
gelten sie schlechthin als Banditen. Im Grunde aber sind es nur zwei von vielen
Völkern, für die Europa, die Welt und das noch so unzulängliche Völkerrecht
keine Lösung gefunden haben.
Heuchelei
und Hetze sind todbringende Gifte, denen sich keine Demokratie auf Dauer
widersetzen kann. Das Ecrasez l’infame
Voltaires, jenes Aufklärers aus Leidenschaft, gilt auch heute noch. Ohne die
allgegenwärtige Heuchelei in allen Lebensbereichen wäre eine Diktatur
Ceauşescus nie möglich gewesen. Doch wo die Hetze einsetzt, dort endet die Freiheit!
Statt
der Hetze gegen Minderheiten aller Art, die, wie einst im Pseudokommunismus von
Diktator Ceauşescu, immer noch massiven Diskriminierungen und Stigmatisierungen
ausgesetzt sind, sollte man heute in den Straßen Bukarest öfters wieder die
Neunte Symphonie Beethovens erklingen lassen, wie einst in Wilna, jene Symphonie der Freiheit - gegen Sklaverei,
Heimtücke und Hass die Massen berauschte.
Aktueller
denn je ist der Appell des Komponisten, den Beethoven dem Odentext des
Dichterphilosophen einleitend beifügte: O
Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.
Hinter der Erweckung von Freude,
die ein Element der Natur und der Freiheit
ist, verbarg sich eine Vision, das prophetisches Sehen einer emanzipierten
Menschheit. Hetze bewirkt nur Trennung und Spaltung. Sie bringt die Menschen
gegeneinander auf, statt sie miteinander zu versöhnen.
Symphonia aber, das wussten schon die Alten,
bedeutet Zusammenklang.
In der
Symphonie von Wahrheit und Freiheit
werden die Menschen zusammen geführt, über die Harmonie hinaus in eine größere
Einheit, deren Spiegelbild die Lebenssymphonie jedes Einzelnen ist. Das
Miteinander der Stimmen zählt, nicht das Durcheinander oder gar das
Gegeneinander. Indem sich der Einzelkünstler im Orchester zurücknimmt,
ermöglicht er über sein rücksichtsvolles Handeln den Wohlklang des
symphonischen Kunstwerks. Eine Umbruchgesellschaft wie die rumänische sollte
sich an den Musikern orientieren, die, wie Beethoven bereits betonte, die
Erdenbürger über die Musik schon längst vereinten und versöhnten. Es war kein
Zufall damals, als die Menschen in Osteuropa aus ihrem finsteren Kerker ausbrachen
und ans Licht strömten, gleich den Gefangen aus Fidelio, um endlich in freier
Luft den Atem leicht zu heben, dass sie gerade die Neunte Beethovens anstimmten.
Sie
handelten aus einem Impuls heraus und intuitiv richtig, indem sie auf neue Töne
setzten, auf die verbrüdernden Zusammenklänge jener Symphonie der Freiheit, die inzwischen Europas offizielle Hymne
ist. Ihre Botschaft ist der Wegweiser zum Endziel, zum ewigen Frieden, von welchem Kant träumte. Obwohl es bis zum letzten
Ziel noch weit ist, gilt jetzt schon ein Gebot für alle Menschen überall auf
der Welt:
Freiheit, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten zaubertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Ende ( Teil I.)
Teil II liegt inzwischen vor !)
Symphonie der Freiheit
©Carl Gibson. Alle Rechte vorbehalten.
Teil II liegt inzwischen vor !)
Symphonie der Freiheit
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur
Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung
in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,
Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe
Rechts: Titelbild:
"Allein in der Revolte"
Mehr zum Thema Kommunismus hier:
Allein in der Revolte -
zur kommunistischen Diktatur in Rumänien -
über individuellen Widerstand in einem totalitären System.
im Februar 2013 erschienen.
Das Oeuvre ist nunmehr komplett.
Alle Rechte für das Gesamtwerk liegen bei Carl Gibson.
Eine Neuauflage des Gesamtwerks wird angestrebt.
Fotos von Carl Gibson: Monika Nickel
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen